Wildwest auf der Ostsee
Ein strahlender Sommertag an der Ostsee. In der Neustädter Bucht dümpelt ein Surfer im Wasser. Plötzlich ein Knall: Eine große Motorjacht hat den Surfer erfasst, tötet ihn fast. Er verliert ein Bein und Unmengen von Blut, unzählige Knochen sind gebrochen. Zwei Mal müssen ihn die Ärzte wieder ins Leben holen. Der tragische Unfall ist nun zwei Jahre her.
Reinhard Fahlbusch steht am Strand von Scharbeutz und schaut auf die Bucht, in der er drei Jahrzehnte lang gesurft und gesegelt ist. Das Wasser ist voll mit Badenden, Seglern und Surfern. Dazwischen jagen Motorboote immer wieder laut an der Küste vorüber. Fahlbusch kann den Anblick kaum ertragen. Über sein Schicksal hatte im Frühsommer die "Zeit" berichtet. Nun gibt er sein erstes Fernsehinterview. Er geht an die Öffentlichkeit, weil er sich sicher ist, es geht um mehr als sein persönliches Unglück. Er ist an jenem Sonntagnachmittag nicht nur in die Schiffsschrauben einer Motorjacht geraten, sondern mitten hinein in den Kampf zweier rivalisierender Lager, die an der Ostseeküste miteinander streiten. Doch das weiß er erst heute.
Von einer Sekunde auf die andere
Damals genießt der erfahrene Surfer Fahlbusch einen der letzten Sommertage des Jahres auf dem Wasser. Genau wie die Besatzung der acht "Sunseeker"-Motorjachten, die im Neustädter Hafen zur "Baltic Cruise" gestartet sind - einem PR-Ausflug für vermögende Kunden und Interessenten der Luxus-Werft. Das größte Schiff, die "Predator 74" prescht vorweg. Mit 22 Metern Länge, 3.600 PS und 47 Tonnen ist sie die Vorzeigejacht in der Lübecker Bucht. Ihr stolzer Besitzer: ein Lübecker Unternehmer.
Reinhard Fahlbusch hat keine Chance, als der Jachtbesitzer seine Predator annähernd auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigt. 38 Knoten, also fast 70 Stundenkilometer beträgt ihre Geschwindigkeit beim Aufprall. Fahlbusch hat daran keine Erinnerung. Er wacht erst wieder im Lübecker Universitätsklinikum auf, sein linkes Bein fehlt.
Sonderregelung für Surfer
Lange scheint offen, ob der Unfallfahrer zur Verantwortung gezogen werden kann. Seine Sicht der Dinge gibt der Jachtbesitzer lediglich über Gutachter und Anwälte zu erkennen. Fahlbusch sei mit hoher Geschwindigkeit von hinten unter seine Jacht gefahren und somit selbst für den Unfall verantwortlich. Außerdem hatte die Motorjacht Vorfahrt gegenüber dem Surfer.
Tatsächlich müssen Surfer, die als Wassersportler eingeordnet werden, innerhalb der Drei-Meilen-Zone vor der Küste Motorschiffen ausweichen. Eine seit 1998 gültige Sonderregelung, denn auf See müssen normalerweise Motorschiffe den schwächeren Segelfahrzeugen Platz machen.
Strafbefehl gegen den Fahrer der Jacht
Zwei Jahre nach dem Unfall hat das Amtsgericht Kiel nun Strafbefehl gegen den 73-jährigen Fahrer der Motorjacht erlassen: Acht Monate Haft auf Bewährung und Zahlung von 10.000 Euro an die Seenotretter, so das Urteil. Angesichts der vielen Wassersportler in der Bucht sei die Geschwindigkeit der Jacht unangemessen hoch gewesen. Der Fahrer hat das Urteil akzeptiert.
Für Reinhardt Fahlbusch ist damit längst nicht alles gut. In seinen Augen sind die Motorboote in der Lübecker Bucht ein stetig wachsendes Sicherheitsrisiko für jeden Wassersportler oder Schwimmer. Solange es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gebe, könne jeden Tag ein neuer Unfall passieren.
Wettrüsten um die Bootsbesitzer?
Es scheint als habe an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste ein regelrechtes Wettrüsten um die zahlungskräftige Klientel der Bootsbesitzer begonnen. Mittlerweile gibt es mehr als 18.000 Liegeplätze für Sportboote. In Scharbeutz ist eine schicke Dünenmeile entstanden, ein Luxushotel wird gerade gebaut.
Per Bootstaxi werden Kunden von ihren Jachten an den Strand und zurück chauffiert. Sie alle lieben die Freiheit auf dem Wasser, einige auch den Rausch der Geschwindigkeit. Mit Regeln und Vorschriften kann man sie eher nicht anlocken.
Fahlbusch will irgendwann auch wieder raus aufs Wasser. Auch er will auf dieses Gefühl von Freiheit nicht verzichten, sagt er. Diese Sehnsucht teilen Wind- und Motorsportler. Ansonsten aber ringen sie um die Frage: Wer hat das größere Recht darauf? Wer hat Vorfahrt? Ja, wem gehört die See?