Stolperstein auf Gut Wulksfelde: Kinder gedenken des getöteten Mädchens
Eine vierte Klasse aus Tangstedt hat einen Stolperstein für das polnische Mädchen Czeslawa enthüllt. Sie verhungerte während des Zweiten Weltkrieges, weil ihre Mutter auf dem Feld Zwangsarbeit leisten musste.
Gewusel auf dem Schulhof der Grundschule Tangstedt (Kreis Stormarn). 18 Kinder der Klasse 4c warten darauf, dass es endlich losgeht. Sie wollen zum Gut Wulksfelde, eine knappe Stunde Fußmarsch entfernt. Zur Hauptstraße nehmen sie eine Abkürzung über einen Feldweg. Sie gedenken auf Gut Wulksfelde des Mädchens, das im Zweiten Weltkrieg verhungert ist - und nun einen Stolperstein bekommt.
Mit dem Ukraine-Krieg kamen die Fragen
Seit dem Überfall auf die Ukraine stellten die Schülerinnen und Schüler der Grundschule viele Fragen, berichtet ihre Lehrerin Sylvia Canell. Dann hatten sie auch Fragen zum Zweiten Weltkrieg. Die Kinder und ihre Lehrerin fingen an, sich im Unterricht intensiv mit der Nazizeit zu beschäftigen, obwohl es nicht im Lehrplan stand, wie Canell sagt.
"Man kann nicht früh genug anfangen"
Die Lehrerin hatte zunächst Bedenken, das Thema mit den Grundschulkindern zu bearbeiten. Sie dachte, es könnte vielleicht zu gruselig für die Kinder sein. Doch dann war sie überzeugt: "Ich halte das auch persönlich für ein sehr wichtiges Thema, weil wir viel über Rassismus reden und uns darüber empören." Es hieße immer, man solle was dagegen tun. "Man kann nicht früh genug anfangen", ist sie überzeugt. Sie schaute dann mit den Kindern die ARD-Serie "Der Krieg und ich" - und sprach viel mit ihnen. Die Schülerinnen und Schüler verstanden zum Beispiel, dass in Nazideutschland viele Verbrechen geschahen.
Sie wurde 364 Tage alt
"Frau Canel hat uns auch die Geschichte von dem Mädchen erzählt", sagt Schülerin Isabell. Amelie meldet sich. Sie möchte erklären, um wen es heute genau geht. "Sie ist einen Tag vor ihrem ersten Geburtstag gestorben. Sie wurde exakt 364 Tage alt, und sie hieß ...", sie stockt, überlegt kurz: "Ich kann den Namen nicht aussprechen." Der Name des polnischen Mädchens ist Czeslawa Jaglinski.
"Wenn eine Klasse dafür geeignet ist, dann diese"
Als vor kurzem die Anfrage kam, ob eine Klasse der Schule bei der Enthüllung von Stolpersteinen auf Gut Wuksfelde dabei sein wolle, sagte Lehrerin Sylvia Canell sofort ja. "Wenn eine Klasse dafür geeignet ist, dann diese."
Margot Löhr stößt auf die Kinder der Zwangsarbeiter
Die Kinder gehen schnell, vom Feldweg auf die Hauptstraße, dann über die Kreuzung Segeberger Straße zum Wulksfelder Damm. Auf dem Hof angelangt, begrüßt sie Margot Löhr von der Hamburger Initiative Stolperteine. Sie freut sich, dass die Kinder Rosen mitgebracht haben.
Seit fast 20 Jahren recherchiert sie ehrenamtlich die Biografien der Menschen, die vom Naziregime verfolgt und getötet wurden. Dabei stößt sie auf die verstorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Sie findet heraus: Die Mütter der toten Kinder wurden nach Kriegsbeginn 1939 ins Deutsche Reich verschleppt. Sie mussten als Zwangsarbeiterinnen auf Bauernhöfen oder in Fabriken schuften. Bekannt ist: Allein in Schleswig-Holstein mussten 225.000 Männer und Frauen unter Zwang arbeiten. "Arbeitskräfte schöpfen" nannte Adolf Hitler das. Säuglinge störten da nur, würden sie ihre Mütter doch von der Arbeit abhalten.
Junge Familien wurden aus Polen verschleppt
Margot Löhr nimmt sich Zeit, um den Kindern das alles genau zu erklären. "Durch den Überfall auf Polen wurden auch junge Familien wie die von Czeslawa Jaglinski verschleppt", sagt sie. Sie erzählt auch, wie die Gesellschaft damals über diese Menschen gedacht hat: Sie seien sogenannte "Untermenschen" gewesen, nichts wert und deshalb schlecht behandelt worden. Einige Schülerinnen und Schüler melden sich, wollen etwas sagen. Tom Flebbe findet so eine Haltung absolut nicht in Ordnung. Er sagt: "Eigentlich ist ein Mensch ja unbezahlbar, weil jeder Mensch gleich viel wert ist." Und Mariella Ostendorf findet, man solle alle gleich behandeln.
Stolpersteine für Säugling und seine Mutter
Czeslawa verhungerte am 23. April 1945 auf Gut Wuksfelde, weil ihre Familie auf den Feldern unter Zwang arbeiten musste und sich um sie nicht kümmern konnte. In den Akten hieße es, sie sei an einer "Ernährungsstörung" gestorben, sagt Margot Löhr. Jetzt gibt es in der Einfahrt zum Hofgelände einen Stolperstein für den verstorbenen Säugling. Daneben liegt einer für ihre Mutter, damit sie nicht allein ist. Beide wurden von einem Mitarbeiter des Initiators der Stolpersteine, des Künstlers Gunter Demnig, verlegt. Die Kinder bilden jetzt einen Kreis drumherum, halten Rosen in der Hand und sind ganz andächtig. Eine Minute lang schweigen sie. Dann fordert Margot Löhr sie auf, die Blumen an den Steinen abzulegen.
Mitgefühl der Kinder ist groß
Mariella ist sehr berührt: "Ich fand es irgendwie traurig, wie es ihnen ging, aber ich fand es schön, dass wir jetzt noch mal an sie gedacht haben und die Blumen da hingelegt haben." Und Theo findet, dass es jetzt so aussieht wie ein Grab. Alle sind zufrieden.
Warum macht Margot Löhr Stolperstein-Enthüllungen gerne mit Kindern? Sie verstünden schon sehr genau, was Unrecht sei, sagt sie. "Und man merkt ja, wie sie mitgehen, wie sie mitempfinden." Und das Empfinden sei das Wichtigste. Einige Kinder der Klasse 4c haben sich überlegt, immer mal wieder vorbeizukommen, um die Stolpersteine für Czeslawa und ihre Mutter zu putzen.