Aas: Eklig, unhygienisch, aber wichtig für die Wissenschaft
Tierkadaver sind meist nicht schön anzusehen, sind aber wertvoll für die Artenvielfalt. Wie wichtig sie sind, soll eine Studie zeigen. Auch der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer macht mit.
Für Benedikt Wiggering ist es schon fast Routine: Einmal im Monat holen er oder die Rangerinnen und Ranger des Nationalparks ein totes Reh aus der Kühltruhe der Seehundstation Norddeich ab, laden es in den Dienstwagen und legen es dann an einer schwer zugänglichen Stelle im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer aus. Der ungewöhnliche Einsatz im Landkreis Wesermarsch ist Teil einer Langzeituntersuchung, an der alle deutschen Nationalparks teilnehmen, unter anderem also auch der Nationalpark Harz. "Kadaver sind eigentlich für jedes Ökosystem wichtig", sagt Wiggering dem NDR Niedersachsen. "Sie bieten Nahrung und eine Lebensgrundlage für unzählige Lebewesen, vom Säugetier bis hin zu Pilzen und anderen Mikroorganismen und bringen beim Verwesen Unmengen von Nährstoffen in den Boden ein. Und wir wollen jetzt ganz genau herausfinden, wie groß der Nutzen für die verschiedenen Ökosysteme in Deutschland ist."
Mit Wildkameras und Käferfallen auf Spurensuche
Um die ausgelegten Kadaver herum stellen die Mitarbeitenden des Nationalparks Wildkameras auf, die Schnappschüsse von allen größeren Tieren machen sollen. Insektenfallen sollen zusätzlich Käfer und andere Insekten fangen, um zu belegen, welche Arten von dem Aas profitieren. Zusätzlich nehmen die Biologinnen und Biologen über mehrere Wochen Abstriche vom Kadaver selbst und sogar Bodenproben, um später im Labor auch Pilze und andere Mikroorganismen nachweisen zu können, die sich in der unmittelbaren Umgebung des toten Tieres ansiedeln. "Wir wissen selbst noch nicht, was wir im Laufe der Untersuchung alles finden werden", sagt Wiggering. "Aber wir gehen schon davon aus, dass wir eine große Spanne von Arten finden können, die auf die eine oder andere Weise vom Aas in der Landschaft profitieren."
Kameras nehmen Geier und Luchse auf
Erste Ergebnisse aus anderen Nationalparks, die früher mit der Studie begonnen haben, stützen diese Vermutung. Im Nationalpark Bayerischer Wald konnten die Forscher nicht nur über 1.800 verschiedene Bakterien und mehr als 3.700 Pilzarten im und um die Kadaver nachweisen, sondern auch mehr als 200 Tierarten vom Insekt bis zu Luchs und Adler. Die größte Überraschung konnte bisher allerdings der Nationalpark Eifel vermelden: Hier fotografierten die Wildtierkameras einen Schwarm von 21 Gänsegeiern, die offensichtlich aus Südfrankreich bis nach Deutschland geflogen waren und sich um den Kadaver versammelt hatten.
Kadaver werden in der Wildnis abgelegt
Auch in den Salzwiesen des Nationalparks Wattenmeer hoffen Benedikt Wiggering und sein Team nun auf ähnliche spektakuläre Entdeckungen an ihren ausgelegten Kadavern. Die kommen übrigens nur an besonders abgelegene Stellen. "Die Versuchsplätze müssen natürlich möglichst störungsarm sein, damit unsere Ergebnisse nicht durch menschliche Einflüsse verfälscht werden", erklärt Wiggering. "Gleichzeitig wollen wir Besucherinnen und Besucher im Nationalpark nicht unvorbereitet mit dem Thema konfrontieren." Deshalb liegen die vorgesehen Plätze auch alle in der Ruhezone des Nationalparks – also dem Bereich, der von Menschen normalerweise ohnehin nicht betreten werden darf.
Tote Rehe stammen aus Wildunfällen
Wichtig ist Wiggering zu betonen, dass für die Studie keine Tiere getötet werden. "Alle Rehkadaver, die wir auslegen, sind bei Wildunfällen im Straßenverkehr verendet", erklärt Benedikt Wiggering. "Allein in Niedersachsen sterben leider Jahr für Jahr mehr als 20.000 Rehe bei Unfällen, da gibt es genug Kadaver, auf die wir zurückgreifen können." Die Tiere werden dem Nationalpark von Jägern aus der Küstenregion zur Verfügung gestellt und so lange eingefroren, bis es Zeit ist, sie auszulegen. In den kommenden Jahren werden die Forschenden mehrere Dutzend Kadaver auslegen und untersuchen. Und mit den Ergebnissen dann vielleicht auf dafür werben, tote Tiere etwas öfter in der Natur zu belassen - zumindest da, wo sie die Menschen nicht wirklich stören.