Staatsanwalt unter Korruptionsverdacht: Der Fall des Yashar G.
Es gilt die Unschuldsvermutung, doch die Vorwürfe wiegen schwer. Ein Staatsanwalt aus Hannover soll über Jahre hinweg gemeinsame Sache mit Drogenschmugglern gemacht haben. Das ist der Fall Yashar G.
Am 29. Oktober 2024 ging alles ganz schnell. Ermittler des Landeskriminalamtes Niedersachsen (LKA) durchsuchten die Privatwohnung und das Dienstzimmer von Yashar G., einem Staatsanwalt aus Hannover, und stellten Beweismittel sicher. Yashar G. sitzt seither in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den 39 Jahre alten Mann wegen des Verdachts der Bestechlichkeit in einem besonders schweren Fall, wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen und wegen Strafvereitelung im Amt. Der Verdacht: Yashar G. soll einer Kokainbande Informationen aus einem laufenden Ermittlungsverfahren verraten und dafür Geldzahlungen erhalten haben. Die von G. durchgesteckten Informationen sollen dazu geführt haben, dass sich die mutmaßlichen Köpfe der Bande, die 16 Tonnen Kokain nach Deutschland geschmuggelt hatten, vor ihrer Festnahme ins Ausland absetzen konnten, so die Ermittler.
Vorwürfe bei der Staatsanwaltschaft seit 2022 bekannt
Bei der Aufarbeitung des Falles geraten auch die Hannoveraner Staatsanwaltschaft und das Justizministerium in die Kritik. Der Staatsanwalt waren entsprechende Vorwürfe gegen ihren Mitarbeiter spätestens seit Juni 2022 bekannt. Trotzdem konnte Yashar G. bis zum August 2024 als Ankläger im sogenannten 16-Tonnen-Verfahren mitwirken. Das Justizministerium ist die Aufsichtsbehörde der Staatsanwaltschaft. Offenbar ließ sich das Ministerium in den vergangenen zweieinhalb Jahren aber nur sehr unregelmäßig zu dem Verfahren berichten.
G. bei OK in Berlin "absolut unverdächtig"
Yashar G. studiert in Hannover Jura. Nach dem zweiten Staatsexamen arbeitet er zunächst in der Staatsanwaltschaft Berlin, wo er ebenfalls mit Organisierter Kriminalität (OK) zu tun hat. Berliner Ermittler, die mit dem Mann zusammengearbeitet haben, beschreiben ihn dem NDR gegenüber als "akribisch und sehr engagiert, absolut unverdächtig". 2019 kehrt Yashar G. zurück nach Hannover, wo er seit 2019 für die Hannoveraner Staatsanwaltschaft zunächst auf Abordnungsbasis arbeitet, ab 2022 wird er in Hannover übernommen.
Kokain-Bande plant, 16 Tonnen über Hamburger Hafen zu schmuggeln
Dort kommt Yashar G. rasch an einen großen Fall. LKA-Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass eine Drogenbande größere Mengen Kokain über Weißrussland nach Deutschland schmuggeln will. Sie fordern deshalb vom Bundeskriminalamt entschlüsselte Chats an, die sie den Beschuldigten zurechnen. Bei der Auswertung der Daten kommen die Ermittler auch einem deutlich größerem Kokaindeal auf die Spur. Eine Gruppe um Konstantinos S. und Andres C. gerät in den Verdacht, mit der sogenannten Moccro-Mafia einen Verkauf einzufädeln, den es in der europäischen Geschichte bisher noch nicht gegeben hat. Die Hannoveraner Kokain-Connection plant, 16 Tonnen Kokain aus Südamerika einzuschmuggeln. Um der Einfuhr über den Hamburger Hafen einen legalen Anstrich zu geben, gründen die Täter eine Scheinfirma und klären minutiös die Hafenlogistik auf.
Dezember 2020: Täter schreiben in Chats von Korruption
Die Täter scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Für ihre Kommunikation nutzen sie verschlüsselte Handys, die mit der Kryptosoftware SkyECC ausgestattet sind. In den mittlerweile entschlüsselten Chats, die der NDR einsehen konnte, stoßen die Fahnder später auf erstaunliche Nachrichten. Im Dezember 2020 warnt ein Mitglied der Bande ein anderes Mitglied davor, dass gegen die Gruppe ermittelt werde. "Deine Akte soll auf weg sein" heißt es in dem Chat. Auf die Frage, woher diese Information stamme, antwortet der Mann: "Eine staatsanwalt den die kenne hat gesagt (…) Mein Freund. Und kann Info kriegen. Er ist korrupt." Um wen es sich bei diesem Staatsanwalt handelt und ob an der Geschichte tatsächlich etwas dran ist, ist den Fahndern zunächst nicht klar. Immer wieder tauchen Hinweise in den Chats auf, die den Verdacht nähren, dass die Gruppe Informationen aus dem laufenden Ermittlungsverfahren erhält. Angeblich sollen diese Informationen von einer Quelle beim LKA und von eben jenem "staatsanwalt" stammen.
März 2021: Eine Razzia wird zum Desaster
Spätestens am 3. März 2021 dürfte den Ermittlern im Fall klar sein, dass etwas gehörig falsch läuft. Das Ermittlungsverfahren, das unter dem Stichwort "Adiós" geführt wird, bringt zwar erhebliche Erfolge mit sich. So gelingt es dem Zoll in Hamburg Anfang 2021, die 16 Tonnen-Ladung abzufangen. Doch die Großrazzia am 3. März ist ein Desaster. Die Polizei trifft zahlreiche Verdächtige an diesem Tag nicht an, weil diese sich längst ins Ausland abgesetzt haben. Auch wundern sich die Beamten, dass sie an diesem Tag kaum Drogen, Bargeld oder andere Beweismittel sicherstellen.
Juni 2021: Ermittler nehmen G. in den Fokus
Staatsanwalt Yashar G. leitet das Mega-Kokain-Verfahren. Er gilt - wie schon in Berlin - auch unter Kollegen und Strafermittlern in Hannover als akribisch und sehr genau. Doch drei Monate nach der geplatzten Razzia gerät G. selbst in den Fokus von Polizei und Staatsanwaltschaft. Wie es dazu kam, wird ein Vertreter des niedersächsischen Justizministeriums im Rechtsausschuss des Landtags später folgendermaßen erklären: "Eine Auswertung verschlüsselter Handydaten in anderen Betäubungsmittelstrafverfahren, Erkenntnisse aus Durchsuchungsmaßnahmen in gesonderten Verfahren und Hinweise von gesondert verfolgten Personen aus der Betäubungsmittelszene sowie Kontoverdichtungen begründeten einen Anfangsverdacht gegen den für den Ermittlungskomplex zuständigen Staatsanwalt." Es ist eine heikle Situation: Einerseits ist G. in den überaus komplexen Drogenfall eingearbeitet und die Frist zur Erstellung der Anklagen läuft. Andererseits steht der Vorwurf im Raum, dass eben der Staatsanwalt, der die Ermittlungen in dem Kokain-Fall leitet, mit den Verdächtigen gemeinsame Sache macht.
November 2022: Verdeckte Ermittlungen führen zu Hausdurchsuchung
Bei der Staatsanwaltschaft Hannover entscheidet man sich dafür, verdeckt gegen den eigenen Mitarbeiter zu ermitteln. Der Anfangsverdacht sei "gering" gewesen, heißt es dazu vom Justizministerium. Offenbar reichen die Verdachtsmomente immerhin dafür aus, einen Durchsuchungsbeschluss für die Privatwohnung und das Dienstzimmer von Yashar G. zu erwirken. Die Durchsuchung findet am 23. November 2022 statt, und zwar auch deshalb, um Yashar G. gegebenenfalls zu entlasten. Es sei "nicht auszuschließen, dass Betroffene dieser Ermittlungsverfahren' (in welchen derzeit am Landgericht fast ausnahmslos ausgesprochen hohe Haftstrafen verhängt werden) ein Interesse daran hätten, einen der Hauptermittler zu diskreditieren", notierte die zuständige Ermittlungsrichterin in der Akte. Tatsächlich scheint es so, als würden sich die Hinweise auf Yashar G. zunächst verdichten. Mitte Oktober hatte sich Jonas H. an einen LKA-Ermittler gewandt. H. saß zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft, ihm wurde vorgeworfen als Teil der Kokainbande die Fuhr-Logistik übernommen zu haben. Auch er belastet den Staatsanwalt und erklärt, der Mann habe Informationen aus den Ermittlungen an die Gruppe weitergegeben.
War Justizministerium seit Herbst 2022 informiert?
Nach Informationen des NDR soll im Herbst 2022 erstmals auch ein Mitarbeiter des Justizministerium von einem Rechtsanwalt informell über den Verdacht in Kenntnis gesetzt worden sein. Auf Nachfrage erklärte das Justizministerium, es habe erst einen Tag nach der Razzia bei Yashar G. eine vertrauliche Unterrichtung im Ministerium zu dem Fall gegeben. Daran nahmen unter anderem der Leiter der Strafrechtsabteilung sowie der Staatssekretär teil. Das Ministerium scheint den Fall damals nicht sonderlich kritisch einzuschätzen. Auf die Nachfrage des NDR, welche Verabredung an diesem Tag getroffen worden sei hinsichtlich der Frage, wie engmaschig das Justizministerium über den weiteren Verlauf des Verfahrens zu unterrichten sei, erklärte ein Sprecher schriftlich: "Eine besondere Abrede im Einzelfall wurde nicht getroffen." Nach Angaben des Ministeriums bliebt es bei der einen Unterredung, zudem seien noch zwei Berichte an das Ministeriums geschickt worden. Mehr passierte nicht.
Datenträger beschlagnahmt, aber nicht vollständig ausgewertet
Das Ministerium lässt der Staatsanwaltschaft in dem Verfahren zunächst offenbar freie Hand. Gemeinsam mit der Generalstaatsanwaltschaft in Celle trifft sie eine weitreichende Entscheidung. Bei der Durchsuchung von Yashar G.s Dienstzimmer und von seiner Privatwohnung Ende November 2022 sollen "zahlreiche Datenträger" beschlagnahmt worden sein, so berichtet es ein Vertreter des Justizministeriums vor dem Niedersächsischen Landtag. Für gewöhnlich vergehen viele Wochen oder sogar Monate, bis derartige Daten ausgewertet sind und ein Urteil fällt, ob die Beweismittel einen Verdächtigen be- oder eher entlasten.
Dezember 2022: G. darf im Kokain-Prozess Klage führen
Doch es herrscht Zeitdruck. Denn gerade einmal zwei Wochen später, am 5. Dezember 2022, soll die Hauptverhandlung im Kokain-Prozess beginnen, für die Yashar G. die Anklage geschrieben hat. Obwohl die Datenträger offenbar nicht vollständig ausgewertet werden, entscheidet die Staatsanwaltschaft Hannover, Yashar G. nicht von dem eilbedürftigen 16-Tonnen-Kokainfall abzuziehen. Dies sei auch geschehen, weil der Verdacht gegen G. zu diesem Zeitpunkt relativ schwach gewesen sei, heißt es später im Landtag. Ein Hinweis, dass man von der eigenen Entscheidung vielleicht nicht ganz überzeugt war, liefert die Tatsache, dass neben Yashar G. noch ein zweiter Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft im Kokainverfahren benannt wurde - weil das Verfahren so komplex gewesen sei, aber auch "um sicherzustellen, dass die Neutralität wirklich gewahrt bleibt".
Oktober 2023: Staatsanwaltschaft stellt Verfahren gegen G. ein
Fortan tritt Yashar G. in zahlreichen Verfahren im 16-Tonnen-Fall als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft auf. Und das, obgleich sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Richter zu diesem Zeitpunkt von dem Ermittlungsverfahren gegen Yashar G. wissen. Besonders pikant an dem Fall ist, dass G. selbst gegen Jonas H. die Anklage führt, also gegen jenen Mann, der ihn bei der Polizei belastet. Im Oktober 2023 wird das Verfahren gegen Yashar G. dann eingestellt, da sich der ursprüngliche Tatverdacht nicht erhärten lässt.
Februar 2024: Verdächtiger Staatsanwalt wird versetzt
Yashar G. arbeitet als Staatsanwalt in der Abteilung für schwere Drogenkriminalität. Im Zuge der ursprünglichen Ermittlungen gegen ihn stoßen die Fahnder dann auf eine brisante Information. Ein Schwager von G. wird 2021 in Hannover wegen des Handels mit Betäubungsmittel zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Doch obwohl die Information offenbar seit einiger Zeit vorliegt, entschließt sich die Staatsanwaltschaft Hannover erst am 24. Februar 2024 dazu, Yashar G. in eine andere Abteilung zu versetzen. Auf Nachfrage erklärte das Justizministerium schriftlich, man habe den Mann versetzt, weil eine Haftstrafe eines Verwandten bekannt geworden ist. Auf die Frage, warum man erst so spät gehandelt habe, verweist das Ministerium auf die Staatsanwaltschaft Hannover. Diese habe die Entscheidung "in eigener Verantwortung" getroffen und der Zeitpunkt habe "organisatorische Gründe" gehabt.
Staatsanwalt bleibt im 16-Tonnen-Fall
Der Schritt, G. aus der Abteilung für schwere Drogenkriminalität abzuziehen, erfolgt offenbar nur halbherzig. Denn Yashar G. bleibt nach Recherchen des NDR mit dem 16-Tonnen-Fall beschäftigt. Fahnder nehmen einen der flüchtigen Täter Anfang 2024 in Kolumbien fest. Kolumbien liefert den Mann nach Deutschland aus. G. verfasst die Anklage und tritt in der Verhandlung als Sitzungsvertreter auf. Auch dies habe die Staatsanwaltschaft Hannover "in eigener Zuständigkeit autonom entschieden", erklärt das Justizministerium.
Juni 2024: Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen wieder auf
Nach Angaben des Justizministeriums erlangt das LKA im Laufe dieses Jahres weitere entschlüsselte Chatverläufe aus dem 16-Tonnen-Verfahren. Die Inhalte der Chats müssen dabei auch Yashar G. belasten, so dass die Staatsanwaltschaft Hannover am 19. Juni 2024 das Ermittlungsverfahren gegen G. wieder aufnimmt. Offenbar ist die Beweislage seither deutlich besser. Trotzdem entscheidet sich die Staatsanwaltschaft, Yashar G. nicht von dem 16-Tonnen-Fall abzuziehen. Noch Ende August 2024 tritt er als Verhandlungsverteter auf, der Fall endet mit einer Verurteilung. Erst im Oktober, eine Woche vor der Festnahme von Yashar G., unterrichtet die Staatsanwaltschaft Hannover das Justizministerium über das neuerliche Ermittlungsverfahren. Dies sei übliche Praxis in verdeckt geführten Ermittlungsverfahren, erklärt ein Ministeriumssprecher. Yashar G. wird am 29. Oktober in Hannover festgenommen.
Staatsanwalt bleibt in Untersuchungshaft
Yashar G. sitzt bis heute in Untersuchungshaft. Auf Nachfrage des NDR erklärte sein Anwalt, er wolle sich nicht zu dem Fall äußern. Mittlerweile hat das Justizministerium den Fall aus Hannover abgezogen und an die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg verwiesen. Carina Hermann von der CDU im niedersächsischen Landtag glaubt, dass im Justizministerium während des gesamten Falls ein erhebliches Informationsdefizit vorgeherrscht habe, letztlich habe das Ministerium so nicht seiner Kontroll- und Aufsichtsfunktion nachkommen können. Es sei dem Ministerium dabei klar gewesen, dass der Staatsanwalt in "hochsensiblen Ermittlungskomplexen" tätig war. „Umso unverständlicher ist es, dass das Justizministerium nicht darauf gedrungen hat, fortlaufend informiert zu werden“.