Herrn Leiberts leise Welt
Hans-Georg Leibert rührt sich erst, als Lena Witzke mit zwei Fingern über seinen Rücken streicht. Es ist, als habe sie einen Knopf gedrückt. Erst jetzt weiß Leibert, dass er nicht mehr allein in seinem Zimmer mit der schönen Aussicht ist, die er nie wird genießen können. Denn Herr Leibert ist blind. Herr Leibert ist zudem nahezu taub. Dennoch - man kann sich Hans-Georg Leibert, 71 Jahre alt, als zufriedenen Menschen vorstellen. Doch Leibert ist eher die Ausnahme.
Isoliert, depressiv, einsam
Bundesweit wurden zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung Veranstaltungen abgehalten. Dabei ging es um Inklusion, um die Forderung, Menschen wie Leibert ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu ermöglichen. Denn Menschen, die weder sehen noch hören können, sind besonders betroffen von Isolation, Stress, Depression und Einsamkeit, heißt es von der Taubblindenberatungsstelle in Hannover. Sie brauchen deshalb für fast jede Tätigkeit Unterstützung, sei es beim Ankleiden, Trinken, bei der Körperpflege. Noch mehr Hilfe benötigen Menschen wie Leibert bei Aktivitäten außerhalb des vertrauten Zimmers. Auch bei der Kommunikation geht es nicht ohne Hilfsmittel.
Die Unterhaltung: ein Klopfen und Streicheln
Es hat etwas Zärtliches, wenn sich Leibert und Ergotherapeutin Lena Witzke unterhalten. Sie streicht ihm über die Handfläche, tippt die Lormen, eine Zeichensprache für Taubblinde, mal auf diesen Finger, mal auf jenen Handballen. Dann konzentriert sich Leibert. Sie klopft auch mal nachdrücklicher, wenn er falsch nachspricht, was sie ihm gerade in die Hand geschrieben hat. Dann hält er inne. Für den Beobachter geht die Unterhaltung fast lautlos vonstatten. Die Kommunikation zwischen Leibert und seiner Betreuerin im Taubblindenwerk Hannover kommt nicht ohne Berührung aus. Selbst die Vorstellung, nicht zu sehen, nicht zu hören - sie ist für Sehende und Hörende kaum möglich.
Eine strenge Erziehung
Im Alter von 20 ist Hans-Georg Leibert schwerhörig geworden. Das war im April 1965, zwei Monate nach seinem Geburtstag. Bis heute weiß man nicht, warum. Er hört auf dem linken Ohr noch etwas, sagt er, deswegen auch schwerhörig und nicht taub. Wie viel er hört? Lena Witzke kommt, wenn es schneller gehen soll, ganz nah an sein Ohr und brüllt fast hinein. Und Leibert versteht trotzdem nicht immer. Umso lieber erzählt er, mit sonorer, manchmal lauter Stimme, da er sich selbst nicht hört - etwa von seinem Leben. Am 23. März 1945 geboren, ist er mit vier Geschwistern in Buchen im badischen Odenwald aufgewachsen. Der Vater Malermeister, die Mutter im Geschäft tätig. Eine strenge Erziehung hatte er, erzählt Leibert. Als er später häufiger sein Hörgerät kaputt machte, haben sie auf ihn geschimpft. Obwohl er das nicht extra gemacht hat, wie er betont. Herr Leibert hat Zuckungen, manchmal. Schon als Kind. Dann kommt es vor, dass seine Hand unkontrolliert ausschlägt. Oder er an Dingen herumfummelt - bis sie kaputt sind. Laufen gelernt hat er im Alter von sechs. Mit neun kam er zur Blindenschule, lernte dort die Blindenschrift.
Er schreibt nahezu täglich
Die Blindenschrift ist für Leibert die Eintrittskarte ins gesellschaftliche Leben. Er schreibt viele Briefe. Er hat sich am Computer schulen lassen, mehrere Tausend Euro hat ihn das gekostet. Auch die Braille-Zeile vor der "normalen" Tastatur hat er selber bezahlt, die Krankenkasse übernimmt nur eine abgespeckte Variante. Aber Leibert schreibt viel, er wollte die breite Version. Mit ihr kann er auch lesen, wenn jemand etwas in das Textprogramm seines Computers eingibt. So schreibt er nahezu täglich. An ehemalige Mitbewohner, ehemalige Betreuer, seinen zwei noch lebenden Schwestern. Die Blindenschrift ist aber auch die Eintrittskarte in die Literatur, die Religion, die tagesaktuellen Nachrichten. Er lässt sich den "Stern" schicken und die "Zeit". Im Regal stehen "Die Buddenbroks" von Thomas Mann, "Geschichten aus 1001 Nacht" - und die Bibel.
Schläge in Bethel
"Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen", liest Leibert laut vor. Er sitzt in seinem Sessel und fährt mit den Fingern über die Seiten des Johannesevangeliums - die "Heilung des Blindgeborenen" durch Jesus, seine Lieblingsstelle in der Bibel. Er ist sehr gläubig, sagt er. Konfirmiert wurde er jedoch erst im Alter von 35 Jahren in Bethel. Diese diakonische Einrichtung in Nordrhein-Westfalen - sie war seine Heimat für viele Jahrzehnte. Viel Schlimmes hat er dort erlebt, sagt er - und erzählt, wie er mit 15 weg von der Blindenschule ins weit entfernte Bethel musste, für den Rest seines Lebens, so hatten es seine Eltern verfügt. In Bethel haben sie ihn geschlagen, sagt er heute. Dennoch ist er nicht gegen Bethel. Er hat seinen Frieden gemacht. Ins Taubblindenwerk nach Hannover ist er im Jahr 2011 gekommen. Er hatte erfahren, dass es hier eine Einrichtung für Taubblinde gibt. Da wollte er weg aus Bethel, wo zumeist ja geistig behinderte Menschen leben, sagt er. Er ist nun sehr gern hier. Und zufrieden. Das sagt er immer wieder. Hier könne mal viel erleben. Bei gutem Wetter mit den Betreuern spazierengehen, Sport treiben, schreiben, lesen - und Klavierspielen.
Eigene Stücke am Klavier komponiert
Im Alter von drei Jahren hat er das erste Mal am Klavier gesessen, da konnte er ja noch hören. Er war schon immer musikalisch, sagt er. Mit elf bekam er Unterricht. Jetzt, 50 Jahre, nachdem er sein Gehör nahezu verloren hat, spielt er noch immer, am liebsten täglich. Er hat sogar eigene Stücke komponiert. Eines davon, ein munteres, kleines Stück, spielt er an diesem Mittwochvormittag vor. Er spürt die Musik, sagt er. Er höre sie auch. Betreuerin Lena Witzke sagt, dass das, was er höre, eher in seinem Denken stattfinde. So sage Leibert manchmal, dass er Vogelgezwitscher oder andere Geräusche hören könne, obwohl weder Vögel zwitschern noch andere Geräusche vorhanden sind. Bei anderen Taubblinden äußere sich das so weit, dass sie Angststörungen hätten, weil sie zum Teil eine Art Stimme hörten, diese Stimme aber nicht begreifen könnten.
Angst, ganz taub zu werden
Leibert hat diese Ängste nicht. Zwar hat er Angst, ganz taub zu werden. Zwar hat er Schlafprobleme - einfach weil er einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus hat. Zwar ist er manchmal traurig und hadert mit seinem Schicksal, nicht sehen und kaum hören zu können. Das Hörgerät hat er 40 Jahre getragen, kam aber nie damit klar. Er würde gerne sehen können, kann sich aber auch gar nicht vorstellen, wie das ist: sehen. Aber, sagt er schließlich: Er ist es ja gewöhnt, nichts zu sehen. So besinnt er sich auf seine restlichen Sinne, freut sich über sein Lieblingsgericht, Nudeln mit Sauerbraten und Sellerie-Salat. Freut sich über den Rest seiner Hörkraft, dank der er manchmal klassische Musik in voller Lautstärke hört. Und manchmal eben auch das Zwitschern der Vögel vor seinem Fenster mit der schönen Aussicht.