Hameln: Neue Hintergründe zu der Horror-Tat
Sonntagabend im November 2016 in Hameln. Manfred Schnieder macht gerade ein Nickerchen auf seinem Sofa, als jemand vor seinem Haus nach Hilfe ruft. Schnieder wacht auf von den Rufen, eilt zum Fenster und sieht auf der Straße vor seinem Haus einen Mann, der hinter seinem Auto herumhantiert. Manfred Schnieder vermutet, der Mann hätte beim Rückwärtsfahren jemanden angefahren und würde die Person nun retten wollen. Manfred Schnieder erzählt: "Ich bin dann natürlich raus und wollte mithelfen!" Doch der Rentner kommt zu spät: Als er die Straße erreicht, ist der Mann bereits ins Auto gestiegen und fährt in hohem Tempo davon. "Da habe ich erst gesehen, dass an seiner Anhängerkupplung ein Seil hing, an dem eine Frau am Hals angebunden war." Am Steuer des Wagens sitzt Nurettin B., ein 38-jähriger Deutscher. Die Frau, die an seiner Anhängerkupplung angebunden ist, ist Kader K., seine ehemalige Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Sohnes. Der dritte Geburtstag des Kleinen steht kurz bevor. Das Paar lebt getrennt.
Streit um Unterhaltszahlung endet blutig
Einige Minuten zuvor waren Nurettin B. und seine Ex-Partnerin bei der Übergabe des Sohnes auf der Straße in Streit geraten. Es ging offenbar um Unterhaltszahlungen. Nurettin B. beginnt auf die Frau einzuprügeln. Schließlich nimmt er aus dem Kofferraum ein Seil, bindet es seiner Ex-Frau um den Hals und um die Anhängerkupplung seines Kombis, fährt los. Keiner weiß, was der Sohn von der Tat genau mitbekommt: Er sitzt auf der Rückbank des Autos.
Schädelbruch und künstliches Koma
Laut Anklageschrift, die der NDR einsehen konnte, zieht sich das Seil durch das Hin- und Herschleudern der Frau immer weiter zu. Nach gut 200 Metern, als Nurettin B. abbiegt, löste sich das Seil. Kader K. fliegt auf den Bürgersteig. Sie wird dort von Passanten wiederbelebt, dann kommt der Notarzt. Zeugen erzählen später, die Frau sei zu dem Zeitpunkt bei Bewusstsein gewesen. Im Krankenhaus stellen die Ärzte bei Kader K. einen offenen Schädelbruch fest, außerdem Abschürfungen, ein Schädelhirntrauma, einen verletzten Herzmuskel. Sie muss mehrmals wiederbelebt werden. Nach einer Notoperation versetzen die Ärzte die Frau ins künstliche Koma. Sie wacht erst Anfang Januar 2017 wieder auf.
Festnahme auf dem Polizeirevier
Während seine Ex-Frau ärztlich versorgt wird, fährt Nurettin B. mit dem Sohn zum Polizeirevier. Er sagt zu den Polizeibeamten ruhig: "Ich war‘s, ich war’s." Die Polizei versteht erst nicht, wovon der Mann redet. Als er und die Polizisten über Funk hören, dass nach einem Auto gefahndet wird, übergibt Nurettin B. den Beamten seine Autoschlüssel und sagt: "Das Auto steht draußen. Ich war’s, das ist meine Ex-Frau. Guck im Kofferraum, da ist eine Axt." Die Beamten nehmen ihn fest. Als sie ihn zu der Tat und dessen Hintergrund befragen, antwortet er, er habe unter Druck gestanden, das Fass sei übergelaufen. Das Jugendamt, die Richterin, die Forderungen seiner Ex-Frau seien Schuld an der Sache. Er sagte dann den Polizeibeamten, er habe alles aufgeschrieben und die Aufzeichnungen seien im Auto. Die Beamten finden dort Unterlagen zu Unterhaltsstreitigkeiten und mehrere handschriftliche Aufzeichnungen: Er wisse nicht, wo sein Sohn wohne. Sein Gold habe sie mitgenommen. Er werde nun gepfändet. Jetzt werde er sie pfänden.
Unvorstellbare Brutalität
Nurettin B. sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Er ist nicht vorbestraft, aber gegen ihn sind in der Vergangenheit mehrere Ermittlungsverfahren geführt worden wegen häuslicher Gewalt. Nun hat ihn die Staatsanwaltschaft Hannover wegen der Tat aus dem November des versuchten Mordes angeklagt. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Nurettin B. soll an dem Abend grausam versucht haben, seine Ex-Frau zu töten.
Für den Anwalt des Opfers, Roman von Alvensleben, ist die Brutalität der Tat noch immer unvorstellbar: "Dass man jemanden hinter dem Auto herzieht als hätte der überhaupt keine Rechte und sei im Grunde schlimmer als ein Stück Vieh - das finde ich schon ziemlich krass. Ich frage mich, wie man überhaupt dazu kommt, mit einem Menschen, der auch einmal Bedeutung für mich hatte, so niederträchtig umzugehen."
Schon im ersten Jahr der Ehe kam es zwischen Nurretin B. und Kader K. zu Streits und Handgreiflichkeiten. Wegen der sich wiederholenden Auseinandersetzungen hält der Anwalt des Opfers es für unwahrscheinlich, dass Nurettin B. aus dem Affekt gehandelt hat. "In den Tagen und Wochen zuvor hat sich die Lage zugespitzt. Ich denke, dass das planmäßiges Vorgehen war. Alles, was ich bisher gehört und gelesen habe, deutet daraufhin. Und dass sie überlebt hat, ist aus meiner Sicht purer Zufall gewesen."
Eine angekündigte Tat?
Auch die Mutter des Opfers, Hayriye K., ist dieser Meinung: "Er war nicht psychisch krank. Er war bei vollem Verstand und hat sich überlegt, ich werde sie töten und mich von dieser Unterhaltszahlung befreien. Deshalb hat er sein Seil ins Auto und sein Messer in die Tasche gelegt. Er hat seine Vorbereitungen getroffen und hat dann die Tat begangen."
Hilflosigkeit in Hass umgeschlagen
Der Anwalt von Nurettin B., Matthias Waldraff, ist nicht der Meinung, dass sein Mandant die Tat vorher geplant hat: "Es ist ein grauenvolles, extremes Geschehen, das aber nicht zum Vorfallszeitpunkt einen eiskalt planenden und abwägenden, nüchtern vorgehenden Täter hat, sondern jemanden, dessen Seelenleben, dessen Zustand völlig zerstört war." Nurettin B. habe vielmehr unter einer "extremen seelischen Angespanntheit" gelitten. Die Tat sei das Ergebnis einer sehr komplexen längeren Entwicklung gewesen, an dessen Ende Hilflosigkeit in Hass umgeschlagen sei.
Aus dem Koma aufgewacht
Anfang Januar erwacht Kader K. schließlich aus dem künstlichen Koma. Nach einigen Tagen versucht ihr Bruder mit ihr über den verhängnisvollen Abend zu sprechen. An das Seil um ihren Hals, an das Schleifen durch die Straßen fehlt ihr jede Erinnerung. Sie erzählt ihrem Bruder, sie könne sich nur noch daran erinnern, dass Nurettin B. ein Messer in der Hand hatte und auf sie einstach. Inzwischen kann Kader K. wieder laufen. Die Ärzte sprechen von einem Wunder, ihr Anwalt Roman von Alvensleben auch: "Es ist wirklich unglaublich, dass sie so schnell genesen ist. Ihr Leben war wirklich auf Messers Schneide und sie war dem Tod deutlich näher als dem Leben." Ihr Ex-Mann sitzt momentan in Untersuchungshaft. Ob er damals aus dem Affekt gehandelt hat und ob er zum Zeitpunkt der Tat überhaupt schuldfähig war, muss nun das Schwurgericht klären.