Kirche verschleppt Missbrauchs-Aufklärung
Die ersten Kindheitserinnerungen von Mario Baltes haben nichts Unbeschwertes: Es sind Erinnerungen an Schläge, an dunkle Keller, an versalzenes Essen. Er wächst in einem Kinderheim in Eschweiler auf. Geführt von Nonnen. Und schließlich, als er fünf Jahre alt ist, wird es noch schlimmer. Der Missbrauch fängt an: "Die Nonne hatte oben im ersten Stock ein Zimmer. An beiden Seiten Türen, die zu den Schlafsälen hingingen. (...) Die Nonne hat dann freie Auswahl gehabt. (...) Teilweise sogar zwei oder drei Jungs gleichzeitig, die dabei waren und sie alle anfassen mussten oder sie hat sie dann nach und nach geholt."
Ein zehn Jahre dauerndes Martyrium
Zehn Jahre dauert das Martyrium. Heute lebt Mario Baltes in Hannover, ist schwer traumatisiert. 8.000 Euro Entschädigung hat er von der katholischen Kirche für seine Zeit im Heim bekommen. Aber er wird das Gefühl nicht los, dass die Kirche sein Leid bis heute nicht ernst nimmt. Und das belastet ihn schwer.
Die Aufklärung der Missbrauchsfälle ist ins Stocken geraten. Als die Übergriffe 2010 ans Tageslicht kommen, bemühen sich die Bischöfe zunächst um Offenheit. Aus heutiger Sicht aber tun sie das schon damals offenbar nur halbherzig: Die Kirche schaltet eine kostenlose Hotline - aber nur für zwei Jahre. Sie zahlt Entschädigungen - aber die genaue Höhe bestimmen nicht unabhängige Berater, sondern die Bischöfe selbst.
Dem entgegen stehen die öffentlichen Beteuerungen, alles aufdecken zu wollen, was damals passiert ist. Archive sollten geöffnet und von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht werden. Doch das ist bis heute nicht passiert. Warum dauert es so lange? Warum kommen die Bischöfe ihrem Versprechen nicht nach? Und wieso machen sie es nicht wie in den Niederlanden? Dort untersuchte eine unabhängige Kommission die Missbrauchsfälle, schnell und effektiv.
Zum zweiten Mal gedemütigt
Professor Thomas Schüller hat früher selbst als Kirchenanwalt gearbeitet. Er ist damals in die Archive gegangen und hat Akten aufgearbeitet, um die ersten Missbrauchsfälle aufzuklären. Er vermutet einen ganz anderen Grund, warum die Aufarbeitung so lange dauert: "Da werden sehr harte Wahrheiten ans Tageslicht kommen und es werden auch bischöfliche Personen, die hoch angesehen sind, die längst gestorben sind, in ein Licht gerückt werden, wo man sagt: 'Wie konnten sie nur so reagieren?'"
Und die Opfer wie Mario Baltes fühlen sich zum zweiten Mal gedemütigt. Ihr Leid verschwindet aus dem Blickfeld, fällt einem undurchsichtigen Taktieren zum Opfer.