Hand in Hand in Sulingen - Inklusion als Nachbarschaftsprojekt
Im inklusiven Wohnprojekt der Lebenshilfe in Sulingen im Landkreis Diepholz leben Menschen mit und ohne Behinderung. Sie verbringen Zeit miteinander und lernen: Inklusion muss man sich nur trauen.
Es duftet nach Curry und gedünsteter Paprika, in der Luft liegt aber noch viel mehr: aufgekratztes Geschnatter, liebevolles Foppen und viel Gekicher. So sei das oft bei ihrem Kochnachmittag, sagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Inklusiven Wohnens in Sulingen. Die meisten von ihnen haben heute schon in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Zum Essen kommen noch mehr Nachbarn dazu, Menschen, die keine Behinderung haben. Sie alle leben zusammen in einer großen Wohnanlage mit 26 Einzelappartements und zwei Wohngruppen. Ideal für Menschen mit Behinderung, aber auch solche, die altersbedingt barrierefrei leben möchten oder eben einfach Lust auf eine bunte Nachbarschaft haben.
Freundschaften und Rituale wachsen
Die ungleichen Nachbarn haben gut zueinander gefunden. In den vergangenen drei Jahren seit der Gründung sind Freundschaften gewachsen. "Der Carsten ist der beste Nachbar überhaupt", strahlt Bewohnerin Vanessa. "Er ist nämlich mein Zeitungsbote." Es gibt Konstellationen, die gehen zusammen einkaufen. Oder vertrauen einander Hund oder Blumen an, wenn sie auf Reisen sind. Spätestens als die Heizung mal gestreikt hat und alle bibbernd im Hausflur standen, hätten sie gemerkt, dass sie sich doch alle ziemlich ähnlich sind, schmunzelt eine Mieterin.
Überwältigt von der Herzlichkeit
Thekla Scheuer hat sich vor drei Jahren aus Neugier auf das Experiment eingelassen. Immer wieder sei sie überwältigt von der Herzlichkeit ihrer Nachbarn. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause komme, werde sie oft mit freudigem Lachen und einem "schön, dass du da bist" begrüßt. Schlechte Laune sei da schnell verflogen. "Man bekommt hier so viel Liebe - gerade von den Nachbarn mit Behinderung", schwärmt sie. Andererseits, so erzählen manche, könne die Aufmerksamkeit auch manchmal zu viel werden. Dann müsse man eben klar Grenzen setzen. Auch das sei ja Inklusion: Dass beide Seiten einander ihre Bedürfnisse aufzeigen dürfen.
Nachbarschaftshilfe bei einem Schicksalsschlag
Eine, die Thekla Scheuer oft von ihrem Balkon aus begrüßt, ist Heike Nordmann. Mit Mitte Vierzig hat sie hier in Sulingen das erste Mal eine eigene Wohnung und ist stolz, dass sie inzwischen sogar ihre Wäsche selbst macht. "Wir lachen so viel zusammen", erzählen die beiden Nachbarinnen. "Aber", so setzen sie hinzu, "wir haben auch schon zusammen geweint." Das mit dem Weinen hat mit Gerd zu tun, dem Lebensgefährten von Heike Nordmann. Bis vor ein paar Monaten haben sie hier zusammen gewohnt. Dann ist er plötzlich verstorben. In Schock und Trauer sind ihre Nachbarn eine wichtige Konstante für Heike Nordmann. Auch an besonders schweren Tagen. Ob sie an Weihnachten zu Thekla kommen dürfe, fragt Heike besorgt. "Na, klar", antwortet Thekla beruhigend, "das habe ich doch versprochen. Wir schaffen das schon“.
"Inklusion braucht Raum"
Ursprünglich sollte ein Drittel der Appartements an Menschen ohne Behinderung gehen. Doch dieser Plan geht bislang nicht auf, es sind aktuell nur fünf. Das liege aber vor allem daran, dass so viele Bewerbungen von Interessenten mit Beeinträchtigung kommen und dass es kaum Fluktuation gibt. Wer einmal einzieht, der will offenbar bleiben. Die Lebenshilfe plant aber schon ein zweites inklusives Wohnprojekt in Diepholz. Auch dort soll es einen großen Gemeinschaftsraum geben, sagt Geschäftsführerin Eva Brischke-Bau. Tür an Tür zu wohnen reiche nicht, man brauche einen Raum für Begegnung. "Man lädt doch anfangs nicht so gern in die eigenen vier Wände ein", meint Brischke-Bau, "dann kann man hier die Nachbarn kennenlernen. Inklusion braucht Raum."
Vom Strickclub bis zur Podiumsdiskussion
Für Inklusion braucht es auch Mut, meint Sozialraum- und Netzwerkmanager Carsten Schlotmann, der selbst auch hier wohnt. Auch die Menschen mit Behinderung müssen dafür ihre Komfortzone verlassen. Mit Arbeit in Behindertenwerkstätten und Wohnen in geschützten Räumen blieben sie sonst sehr schnell unter sich. Deshalb geht Schlotmann auch mal in die Offensive. Als Frauen in der Gemeinde einen Strickclub gründen wollten, aber keinen passenden Raum fanden, bot er kurzerhand den Gemeinschaftsraum an. Nun ist es eben ein inklusiver Strickclub - und alle sind begeistert von dem herzlichen Miteinander. Ein Chor war schon da, zur Landtagswahl die lokalen Politiker und Verantwortliche der Stadt, die hören wollten, wie die Menschen mit Behinderung sich den Umbau der Innenstadt wünschen.
Auf dem Wunschzettel: eine Tischtennisplatte, eine Nestschaukel, ein Schachspiel
Auch für die Spenden, die ihnen aus der "Hand in Hand"-Aktion des NDR zugutekommen sollen, haben die Bewohner schon viele Ideen: eine Tischtennisplatte, ein Trampolin, eine Nestschaukel, ein großes Schachspiel für den Garten. Am schönsten, da sind sich alle einig, wäre es doch, wenn auch andere aus der Straße so Lust bekommen, sie zu besuchen. Das wäre richtige Inklusion: eine spontane Runde Tischtennis mit den Nachbarn - ganz egal ob mit oder ohne Behinderung.