Vorfahrt für die Toten
Das Leben geht weiter, obwohl mitten im Geschehen ein Bestatter einen Gestorbenen abholt. Ist das angebracht?
In der vergangenen Woche ist ein Mensch verstorben. In der Straße, in der ich wohne. Ein silberner Lieferwagen stand in der Zufahrt, auf dessen Fahrertür der Name eines Bestattungsunternehmens. Sehr diskret, sehr unauffällig. Rundherum war alles wie immer. Das übliche Treiben. Vor dem türkischen Imbiss müffelte jemand einen Döner. Einige Menschen warteten auf den Bus. Schulkinder auf dem Heimweg. Ein kleiner Plausch vor dem Supermarkt. Ein Mann mit einem Laubbläser und Ohrenschützern sah kurz auf, als die Bestatter den Sarg mit dem Verstorbenen aus dem Haus trugen. Dann setzte der silberne Lieferwagen rückwärts aus der Einfahrt und fädelte sich in den Verkehr ein.
Mehr Ehrerbietung für die Gestorbenen
Das war’s. Aber es fühlte sich nicht richtig an. Da stimmte doch etwas nicht. Ein Mensch war gestorben. Und rundherum? "Business as usual". Wohlgemerkt: Ich mache niemandem einen Vorwurf. Dem Döner-Esser nicht, den Schulkindern nicht, dem Laubbläser nicht. Niemandem. Ein silberner Lieferwagen. Nichts Besonderes. Kein Hingucker.
Vor einigen Jahren bin ich in den USA über Land gefahren. Da geschah es ein ums andere Mal, dass Autos plötzlich ihre Geschwindigkeit reduzierten, sich an den rechten Straßenrand hielten; und wenn die Verhältnisse es erlaubten, stoppten sie dort sogar. Und machten so den Weg frei für einen Leichenwagen, der gleichsam majestätisch vorbeirauschte. Kein unauffälliger Lieferwagen, sondern eine automobile Erscheinung: Glänzend schwarz, reichlich blitzerndes Chrom, Glas mit Intarsien. Mir hat das schwer imponiert. Wenigstens einen Augenblick innehalten angesichts des Todes. Den Verstorbenen ehren. Ihm die Vorfahrt lassen. Und ihm vielleicht hinterher zu beten: Mensch, Gott hab dich selig. Oder einfach: Mach’s gut.