Eine Bank in einem herbstlichen Park: Überall orangenes Laub auf dem Waldweg, auch in den Bäumen sind noch bunte Blätter. Die Sonne schimmert zwischen Bäumen und Bank hindurch. © Britta Hillewerth Foto: Britta Hillewerth

Kolumne: "Herbstsommergebet"

Stand: 05.09.2024 19:57 Uhr

Radiopastor Oliver Vorwald liebt Rilkes Gedichte an den Sommer. Mit seiner Herbst-Lyrik wiederum kann Vorwald wenig anfangen - und würde am liebsten umdichten.

von Oliver Vorwald

So kurz vor dem Herbstanfang gibt der Sommer nochmal alles. Temperaturen von bis zu 30 Grad. Um mit Rilke zu sprechen: Der Sommer ist gerade sehr groß. Und ich liebe das. Mit seiner Herbst-Lyrik wiederum kann ich wenig anfangen. Fallende Blätter, "als welkten in den Himmeln ferne Gärten", das macht mich eher schwermütig. Auch die Bibel nennt mir keinen Vers, mit dem ich anders auf diese Jahreszeit blicken kann. Reife Beeren. Ja. Aber die gibt es das ganze Jahr über im Supermarkt. Laubhüttenfest. Okay, schön, aber nicht meins. Ich bin ein Sommerkind.

Auf den Herbst freuen?

Mein Kollege Cesare ist das völlige Gegenteil. Als ich in dieser Woche aus dem gleißenden Sommer in das Studio komme, läuft die Klimaanlage, das Licht bleibt gedimmt. "Ich freu‘ mich so auf den Herbst", sagt Cesare. "Den Regen, wenn das Laub sich gelb färbt, wenn es richtig kalt wird." Mir jagen seine Worte Schauer über den Rücken. Wenn ich morgens zum Provinzbahnhof radele, spüre ich die ersten Anzeichen, dass die Jahreszeit sich bald verändern könnte. Das Licht scheint anders, gläsern. Die Grashalme biegen sich schwer unter den Tautropfen, die Störche sind fort. Wenn ich in mich hineinschaue, finde ich keinen tieferen Grund für meine "Herbst-Phobie". Die Vergänglichkeit schreckt mich nicht. So wie bei Rilke eben. "Die Blätter fallen …. Wir alle fallen … Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält." Schön, ja. Fürs Poesiealbum, für Motivpostkarten, später für den eigenen Herbst.

"Herr, … Der Sommer war sehr groß", so beginnt Rilke. Ich möchte sein Gedicht, das zugleich Gebet ist, anders fortschreiben: Lass ihn weiter dauern. Behalte die Schatten, kette die Winde an, gib uns viele südliche Tage und laue Abende unter Deinem unendlichen Sternenhimmel. Wenn möglich, bis in den Oktober. Dann entlasse mich aus dem großen Sommer direkt in einen schneereichen Winter.

 

Rilke-Gedichte zum Herbst

Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
(Aus: Das Buch der Bilder)

Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
(Aus: Das Buch der Bilder)

Kreuz, Herz oder Anker? So heißt die Kolumne der Kirche im NDR. Jede Woche vergeben die Radiopastor:innen und Redakteur:innen ein Kreuz für Glauben, ein Herz für die Liebe oder einen Anker für das, was hoffen lässt.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 08.09.2024 | 08:56 Uhr

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