Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf, aufgenommen im Rathaus von Bremen © Senatskanzlei Bremen Foto: Anja Raschdorf

Henning Scherf: "Glaube ist ja auch ein Schatz"

Stand: 26.10.2023 12:30 Uhr

Henning Scherf war jahrelang Bürgermeister von Bremen. Seit über 30 Jahren wohnt er mit seiner Frau in einem Mehrgenerationenhaus in der Hansestadt. Glauben ist trotz Zweifeln immer wichtig für ihn gewesen.

Sie haben vor vielen Jahren gesagt, dass unsere Gesellschaft die Kirche braucht, damit sie menschlich, hoffnungsvoll und solidarisch bleibt. Würden Sie das heute auch noch so sagen?

Henning Scherf: Ich weiß zwar nicht, dass ich das gesagt habe, aber ich finde das gar nicht so dumm. Ich finde, man muss die Leute an ihrem Tun erkennen. Das, was sie tun, das zählt. Das, was sie behaupten, tun zu wollen, das ist vielleicht eine gute Absicht. Aber überzeugend sind sie erst durch ihr Beispiel. Und daran bin ich interessiert, möglichst viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche in dieser Gesellschaft zu finden, zu erreichen und zu mobilisieren. Dass sie sagen, wir tun was, wir packen mit an, wir kümmern uns, wir lassen die Nachbarn nicht allein laufen. Wir nehmen die Demenzkranken, wenn sie auf Straße sind und nicht weiterwissen, wo vorne und hinten ist, dann an die Hand und bringen sie dahin, wo sie hinwollen. Oder, wir lassen Kinder nicht allein, wir kümmern uns um sie. Wir lassen die vielen Flüchtlinge nicht allein. Die gucken doch mit großen Augen in diese fremde Gesellschaft; können kaum ein Wort verstehen, was wir reden. Wir gehen auf die zu und sagen, wir freuen uns, dass ihr hier seid. Wir wollen Nachbarschaft leben. Und wir wollen euch dazu verhelfen, dass ihr hier gleichberechtigte, geschätzte, wertgeschätzte Menschen werdet. Das zählt.

Ich habe von Ihnen gelesen, dass Sie mal gesagt haben - damals ging es eigentlich um ihre Erfahrungen im Krieg -, dass sie sich aber schon als Jugendlicher von Teilen des Glaubens verabschiedet haben. Dass sie sich von Vertröstungen verabschiedet haben, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. Würden Sie das immer noch so sehen?

Scherf: Ich hatte einen ganz schlauen älteren Bruder, der war fünf Jahre älter als ich, er ist später Professor geworden in Hamburg. Und der hat seinen drei kleinen Brüdern eigentlich jeden Kinderglauben weggenommen. Also, wir haben nicht an die jungfräuliche Geburt geglaubt, weil er gesagt hat, so etwas gibt es überhaupt nicht. Die hat vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt. Und der Josef, der musste getröstet werden, damit er mit dieser unehelichen Geburt vertraut wurde. So hat der geredet.

Ja, da hat er recht.

Scherf: Ja, wahrscheinlich. Wir haben von ihm die Auferstehung als ein reines Fantasie- und Traumgebilde erlebt. Kein Mensch fährt in den Himmel, und kein Mensch lebt oben über den Wolken und guckt auf uns runter. Und die Engel, das sind alles Fantasiegebilde, diese Puttchen, diese gut ernährten Renaissance-Engel, die gibt es gar nicht. Und schon gar nicht hinter den Wolken. Wir haben nicht an den Osterhasen geglaubt, wir haben nicht an den Storch geglaubt. Auch nicht an diese ganzen Wundergeschichten, die in der Bibel stehen, die ja auch Glaubenszeugnisse sind.

Aber dann war es ja eher so, dass er das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat - und alles zerstört hat in diese Richtung …

Scherf: Ja, alles nicht. Er hat auch immer gekämpft mit seinem Glauben. Der hat es noch schwerer gehabt als wir Jungs. Aber wir sind nie ausgetreten aus der Kirche. Wir wollten immer mitmachen. Wir wollten immer das, was die Kirche bewirkt und was die Kirche darstellt mit ihrer Geschichte, mit ihrer Glaubensgeschichte, mit vielen gutwilligen Menschen - das wollten wir in unserer Nähe haben. Da wollten wir dabei sein, das wollten wir verstehen. Ja, wenn das nicht sofort funktioniert, vielleicht klappt es dann im Laufe der Zeit.

Das ist ein Unterschied, ob man sagt, ich glaube nicht daran, dass da irgendjemand auf einer Wolke sitzt oder, ob ich glauben kann, dass es etwas gibt, was mich hält, wenn ich gestorben bin. Und deshalb wollte ich nur nachfragen. Ist es etwas, was sie grundsätzlich abgelehnt haben oder haben Sie dann neues Bild entwickeln können?

Scherf: Also grundsätzlich abgelehnt habe ich es nie. Ich bin immer brav in der Kirche gewesen und habe viele Aufgaben übernommen.

Damit hat das nichts zu tun. Doch das ist ein Unterschied, ob ich mich für die Kirche engagiere, weil ich die gesellschaftlich und sozial gut finde für uns …

Scherf: Ja, weil ich auch Zugang zu dem finden möchte, was die zusammenhält. Der Glaube ist ja auch ein Schatz, den die Kirche hoffentlich gut und pfleglich weitergibt. Und den wollte ich nicht aufgeben und nicht verlieren.

Und dem sind Sie auf der Spur geblieben …

Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf, aufgenommen im Rathaus von Bremen © Senatskanzlei Bremen Foto: Anja Raschdorf
Glaube war immer ein Thema: In seiner Alters-WG lebt Henning Scherf mit den anderen Bewohnern Ökumene.

Scherf: Immer wieder. Ich habe mit einem katholischen Priester 20 Jahre zusammengelebt, jetzt mit einem Freund, einem pensionierten Pastor, der gerade gestorben ist, jahrelang zusammengelebt. Und wir haben so viel über Theologie geredet und so viel über Texte und Glaubenstraditionen. Und das war mir ganz wichtig. Das hat mir hat mir gutgetan, dass ich da so zwei, auch in ihrem Glauben kritische Theologen hatte, die beide miteinander befreundet waren - und so richtig Ökumene gelebt haben. Dass ich die in meiner Nähe hatte, dass wir ganz eng befreundet waren und dass ich ihre Texte lesen konnte, dass ich meine eigenen Texte ihnen vortragen konnte oder sie zum Korrigieren einladen konnte. Und dann haben wir biblische Interpretationen und Auslegungen geschaffen. Ich mit meinem kritischen, skeptischen Kopf, habe immer mitgemacht und sie haben mich einbezogen. Sie haben mich nie außen vorgelassen. Sie haben nie gesagt, du bist ein hoffnungsloser Fall. Mit dir darüber zu reden, hat keinen Sinn. Sondern sie haben immer gemerkt, der gibt nicht auf. Und das war wichtig.

Sie leben ja seit über 30 Jahren in Ihrer Hausgemeinschaft: Waren die beiden Theologen da auch mit dabei?

Scherf: Ja.

Die waren damit dabei, okay. Und welche Rolle hat der Glauben grundsätzlich oder spielt Glaube in Ihrer WG eine Rolle?

Scherf: Ja also, wir sind eine bunte Gesellschaft. Ein Ehepaar, die von Anfang an mit uns das ganze Jahr in Schwung gebracht haben, sind katholisch sozialisiert, sehr schlau, sehr klug. Einer deren Bruder ist katholischer Priester, und wir machen zusammen Ökumene.

Das ist Ihnen auch ein besonderes Anliegen, dass wir nicht das Älterwerden so aussourcen. Habe ich Sie da richtig verstanden?

Scherf: Ja, natürlich. Wir sind inzwischen sieben, die alle so 85 und älter sind, und natürlich geht und unsere Perspektive und wann wir sterben, täglich durch den Kopf und manchmal auch nachts. Und darüber zu reden, ist eine große Hilfe und Menschen zu kennen, die da nicht vorweg laufen, sondern die sagen da sind wir bei euch. Und das machen wir zusammen, um unseren Kindern und Enkelkindern zu sagen, wir sind getröstet, wir sind nicht panisch, wir sind nicht ängstlich. Wir fürchten uns nicht vor dem, was auf uns zukommt, sondern wir nehmen das so, wie es geschehen wird. Und wir sind gerüstet, das zu ertragen. Das finde ich ganz, ganz wichtig, dass es eine ganz prägende Phase in meinem Leben. Manchmal denke ich, so viel über Sinnsuche nachzudenken, habe ich mein ganzes Leben nicht gemacht - wie jetzt.

Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Gott und die Welt - der Podcast | 28.10.2023 | 07:40 Uhr

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