Der Philosoph Giovanni Maio © Giovanni Maio privat
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Giovanni Maio: "Verletzlichkeit ist Chance und Potenzial"

Stand: 18.03.2025 11:10 Uhr

Giovanni Maio ist Philosoph, Professor für Medizin und für Medizinethik an der Universität in Freiburg. Er sagt: "Wir müssen anerkennen, dass wir als Menschen alle immer verletzlich sind."

Aber warum eigentlich?

Giovanni Maio: Weil das eine neue Perspektive auf den Menschen eröffnet, der einfach nicht nur der selbstmächtige Beherrscher der Welt ist, sondern der immer eingebunden ist und angewiesen bleibt.

Aber darum geht es Ihnen nicht nur - Sie sagen, dass Verletzlichkeit eine Ressource sein kann. Inwieweit?

Maio: Weil wir verletzlich sind, können wir uns auch einfühlen in andere Menschen, haben wir eine Sensibilität für andere. Insofern ist die Verletzlichkeit nicht nur ein Bedrohungsterminus, sondern es ist tatsächlich eine Chance und ein Potenzial, das der Mensch nutzen muss. Aber das kann er eben nur, wenn er sich eingesteht, verletzlich zu sein.

Der Philosoph Giovanni Maio © Giovanni Maio privat
AUDIO: Gott und die Welt mit Giovanni Maio (10 Min)

Sie haben eine Ethik der Verletzlichkeit geschrieben. In welche Richtung gehen da ihre Überlegungen?

Maio: Sagen wir, der Mensch ist verletzlich, dann haben wir automatisch eine Haltung zu den Menschen, behutsam mit ihnen umzugehen. Der verletzliche Mensch bedeutet für uns, dass wir uns verantwortlich zeigen müssen für den anderen. Und das heißt, dass wir Kulturen brauchen, durch die der verletzliche Mensch aufgefangen wird.

Sie hinterfragen dabei auch kritisch die Bezeichnung von sogenannten vulnerablen Gruppen. Sie sagen, wir sind alle verletzlich.

Maio: Das war ein großer Denkfehler der Politik, dass sie während der Corona-Zeit einfach nur vulnerable Gruppen kreiert hat. Damit hat man die Menschen stigmatisiert und ihrer eigenen Autonomie beraubt, indem man über sie bestimmt hat. Durch Schutzmaßnahmen. Und es hatte zur Folge, dass die anderen Menschen glaubten, die Verletzlichkeit betrifft nur die Vulnerablen. Gerade Corona hat gezeigt, dass wir alle verletzlich sind. Wenn die Politik anders reagiert hätte, hätte Corona uns auch die Augen öffnen können, dass wir Menschen zusammengehören und zusammenhalten müssen, wenn wir ein gutes Leben führen wollen. Das Gegenteil war der Fall.

Ihre Erkenntnisse beziehen sich stark auf die Medizin. Sie sind Medizinethiker. Wenn Sie kritische Anmerkungen machen - wie oft, hören Sie den Satz: Ist ja sehr schön, Herr Maio. Aber das kann unser Gesundheitssystem jetzt wirklich nicht auch noch stemmen …

Maio: Ich höre das Gegenteil. Die moderne Medizin ist auf einem Irrweg, eher Mechanismen reparieren zu wollen. Es gibt Anreize, Menschen so schnell wie möglich durchzuschleusen. Das ist eine Fehlentwicklung. Sie hängt damit zusammen, dass wir ein falsches Menschenbild in der Medizin verinnerlicht haben. Der Mensch als zu reparierende Maschine, ist kein gutes Leitbild. Deswegen neigt die Medizin dazu, kranke und verletzliche Menschen sich selbst zu überlassen, indem man sich auf das rein Formale zurückzieht. Aber wir sind aufgefordert, uns um diese Menschen zu kümmern.

Welche Haltung wünschen Sie sich in Bezug auf das Thema Verletzlichkeit von der Kirche?

Maio: Keine andere als die, die sie bisher eingenommen hat. Ich finde, wir können sehr viel aus dieser Anthropologie beziehen. Die Vorstellung des Menschen, der nur über die Beziehung zu anderen zu sich selbst finden kann und nur über die Beziehung zum anderen ein gutes Leben führen kann, das ist die Grundeinsicht in die Relationalität des Menschen. Sie hat etwas sehr, sehr Tiefsinniges und Wahres.

In der Welt sehe ich überall so Pseudo-Supermänner, die sich nach niemandem richten. Haben Sie Hoffnung, dass sich unsere Grundkultur verändern kann?

Maio: Wir sind auf dem Weg dahin. Der Mensch ist grundsätzlich fähig, über das Momentane hinauszudenken. Und manchmal muss man eben durch Krisen hindurchgehen, um den Blick für das Wesentliche neu zu erlernen. Und das Wesentliche liegt nicht in der Fähigkeit des Menschen, sich zu optimieren, sondern in der Fähigkeit mit anderen Menschen Gemeinschaft zu stiften.

Das heißt, Sie haben da Hoffnung?

Maio: Natürlich. Mich trägt die Hoffnung, dass am Ende das Gemeinschaftliche überwiegen wird. Nur dann können wir glücklich werden.

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