Datenlecks: Mediale Personality-Show bei Wikileaks
Was für eine Revolution! Als Wikileaks seine ersten Veröffentlichungen präsentierte, stand die Medienwelt Kopf. Welch neue Möglichkeiten der Berichterstattung, der Recherche! Wikileaks, so wurde überall heraufbeschworen, würde den ganzen Journalismus verändern. Spätestens seit der Veröffentlichung der geheimen Berichte von US-Botschaftern auch über deutsche Politiker kannte Wikileaks jeder. Freier Zugang zu allen möglichen Dokumenten. Und, hat sich denn die Presse durch Wikileaks revolutioniert? Über was schreiben denn die meisten? Nicht über politisch Relevantes, sondern über Streit und Lästereien. Boulevard-Themen, die verkaufen sich eben besser.
Es ist Stoff für eine große Geschichte, es geht um Verrat, Intrigen, Vorwürfe - und um einen Gründer, der sich gern selbst inszeniert, so wie gestern auf der IFA Medienwoche. Julian Assanges Rede wurde exklusiv übertragen von N24. Auf der anderen Seite: Sein ehemaliger Mitstreiter Daniel Domscheit-Berg, für die Medien der Gegenspieler.
Alexander von Streit, Medienjournalist, sagt: "Die Schlammschlacht ist der vorletzte oder letzte Akt einer Geschichte, die auch ein Hollywood-Drehbuch sein könnte."
Das System Wikileaks hat versagt
Das Datenpaket mit den unredigierten US-Botschaftsdepeschen ist öffentlich im Internet. Namentlich genannt sind die Quellen der amerikanischen Diplomatie - eine gefährliche Transparenz. Wikileaks-Chef Assange hatte das Passwort für die verschlüsselten Daten einem Journalisten der britischen Tageszeitung "The Guardian" gegeben. Der veröffentlichte es in seinem Buch, vielleicht aus Unwissenheit über die Brisanz. Wer sich auskannte, konnte die geheimen Dokumente monatelang einsehen. Der Öffentlichkeit blieb das verborgen, bis die Wochenzeitung "der Freitag" vor zehn Tagen über das "Leck bei Wikileaks" berichtete. Telefonisch warnte Julian Assange den Herausgeber vor der Veröffentlichung.
Jakob Augstein: "Uns haben auch noch andere Leute vorher angerufen, denn das hat sich rumgesprochen. Da haben noch andere Kollegen von anderen Zeitungen angerufen und haben gesagt, Vorsicht wenn ihr das druckt. Macht euch klar, was ihr da tut."
Der "Freitag" zieht die Story groß, entlarvt die "Nerds ohne Nerven" (25.08.2011). Die Geschichte schlägt ein. "Wikileaks steht in Flammen", schreibt die Berliner Zeitung (02.09.2011). Für die Welt ist es "Das Ende eines Egomanen" (02.09.2011). Das einst streng geheime Passwort steht auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau (01.09.2011). Die Gerüchteküche kocht in den großen Politmagazinen. "Der Spiegel", einst Verbündeter, zeigt Assange in Socken und titelt "Die Kernschmelze" (05.09.2011).
Schuldzuweisungen
Die Protagonisten befeuern die Schlammschlacht. Domscheit-Berg rechtfertig sein Handeln, warnt vor Wikileaks: "Kinder sollten nicht mit Waffen spielen" (Der Spiegel, 05.09.2011). Und Julian Assange lässt über einen Anwalt ausrichten: Domscheit-Berg besitze ein "gesteigertes Maß an Niedertracht".
Jakob Augstein: "Wenn ich sein PR-Berater wäre, hätte ich ihm wahrscheinlich geraten, keine persönlichen Angriffe zu fahren. Das macht sich einfach in solchen Geschichten immer nicht so gut, wenn sie das verknüpfen mit persönlichen Angriffen auf frühere Mitarbeiter. Das sollte man halt möglichst raus lassen. Das können die ja aber beide offensichtlich nicht."
Und es ist das bessere Thema für die Presse. In Vergessenheit gerät dabei der Inhalt der diplomatischen Depeschen. Sie können jetzt zwar von allen ausgewertet werden. Aber der Bruderstreit scheint wichtiger.
Alexander von Streit: "Ein Boulevardthema zieht tausendmal mehr Quote als, sage ich mal Depeschen dritter Klasse, die jetzt vielleicht noch irgendwie ans Tageslicht kommen. Das will keiner mehr lesen oder zumindest die Medien denken, dass das andere Thema so stark ist, dass sie damit sie Quote machen. Und das betrifft Print, Fernsehen und Online gleichermaßen."
Götz Neuneck, Friedensforscher: "Das ist aber auch das, was die Öffentlichkeit irgendwo fasziniert. Letztlich ist das Menschliche hier vielleicht viel wichtiger als die Dokumente. Aber man sollte sich um die Dokumente kümmern. Man sollte sich konzentrieren auf die Aussagen, die doch eine Relevanz haben für Friedenspolitik, für Sicherheitspolitik und für unsere Zukunft."
Quote statt Relevanz
Eine Organisation, erst hoch gejubelt, dann niedergeschrieben. Eine Schlammschlacht, die die wichtigen Fragen überdeckt. Protagonisten, die fahrlässig mit den Daten umgehen und sich dabei selbst inszenieren.
Alexander von Streit: "Ich glaube, dass die Idee des Whistleblowings ganz großen Schaden erlitten hat in den letzten Wochen, Monaten. Und es wird wahrscheinlich wieder einen großen Big Bang brauchen, um da wieder auf die richtigen Gleise zu kommen."
Vielleicht kein BigBang, aber ein Anfang: In der aktuellen Ausgabe veröffentlicht der Stern die erste Geschichte aus Deutschland aus den neuen Depeschen über falsche Aussagen eines SPD-Politikers.
Jakob Augstein: "Was wir auf gar keinen Fall machen dürfen, ist jetzt zu sagen: Super, wussten wir schon immer, funktioniert nicht, vergessen wir das Ganze, machen wir so weiter wie vorher. Das sollten wir nicht tun."