Wie Wikileaks Klatsch zu Nachrichten macht
Es gibt ja nichts Schöneres als Geheimnisse zu erfahren. Darauf beruht der Erfolg der Internetplattform Wikileaks. Im April zeigten sie der Welt ein geheimes Video von amerikanischen Kampfhubschrauberpiloten, die im Irak auf Zivilisten schießen. Seither gilt Wikileaks als Inbegriff für Enthüllung. Wenn Wikileaks also etwas ankündigt, ist klar, jetzt rappelt es im Karton. Der Spiegel durfte als medialer Partner von Wikileaks die neueste Enthüllung schon vorab prüfen. 50 Mitarbeiter wurden fünf Monate abgestellt, um Daten auszuwerten. Uh, da kommt was Großes. Auf jeden Fall kam viel - Geschwätz. Zapp über viel Aufwand für Boulevard.
Die Enthüllung ist groß angekündigt worden. Per Twitter tönte Wikileaks: Durch die Veröffentlichung müsse "die Weltgeschichte neu geschrieben werden" (deutsche Übersetzung). Gemeinsam mit großen Blättern wie dem Spiegel sollten brisante Daten aus dem US-Außenministerium veröffentlicht werden und international Aufsehen erregen. Dazu meint Gerd Appenzeller, Herausgeber des "Tagesspiegels": "Die Inszenierung ist insoweit raffiniert, als sie für eine möglichst große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sorgt. Das ist so wie eine Werbemaßnahme vor dem Erscheinen eines neuen Films oder irgendeines neuen Songs. Man muss das Publikum richtig scharf drauf machen auf die Sache."
In Deutschland präsentiert der Spiegel am Montag dann schließlich seine Wikileaks-Enthüllungsgeschichte. "Geheimberichte des US-Außenministeriums" zeigen demnach, "wie Amerika die Welt sieht" (29.11.2010). Und was die geheimen US-Papiere über Deutschland aufdecken. Der Spiegel zitiert ausführlich, was US-Diplomaten aus Berlin in geheimen Depeschen berichten. Kanzlerin Merkel lasse alles an sich abprallen, werde darum von den US-Diplomaten "Angela 'Teflon'-Merkel" genannt, agiere "lieber im Hintergrund" und sei "selten kreativ". Außenminister Westerwelle sei "arrogant" und bei Amtsantritt habe ihm "die nötige Fachkompetenz in Außen- und Sicherheitspolitik" gefehlt. Vermeintliche Enthüllungen auf über zehn Seiten ausgebreitet. Für den Washington-Korrespondenten des "Handelblatts", Markus Ziener, ist klar: "In dem vorliegenden Fall der Veröffentlichung der Depeschen handelt es sich vor allem um Spekulationen, es handelt sich um Einschätzungen, deren Wahrheitsgehalt man nicht wirklich einschätzen kann, und deren Nutzen nicht ersichtlich ist."
Appenzeller: "Das ist überhaupt nicht relevant. Das ist Klatsch und Tratsch und ich vermute mal der Spiegel hat das gebracht, weil das die Neugier der normalen deutschen Leser befriedigen wird. Das ist die Art von Nachrichten, mit denen man Auflage macht."
Und das Kalkül geht auf
Schon am 2. Verkaufstag ist der Spiegel fast vergriffen. Es wird sogar nachgedruckt. Eine hohe Auflage mit Einschätzungen, die schon vielfach in großen deutschen Blättern zu lesen waren. Die "Teflon-Kanzlerin", ebenso wie der "arrogante" Westerwelle, und der unerfahrene "Außenpolitische Azubi". Kein Geheimwissen.
Appenzeller: "Es spricht nur dafür, dass die Amerikaner, sag ich mal, deutsche Zeitungen aufmerksam lesen, denn ich habe den Eindruck, dass das, was sie da nach Washington reportiert haben, in etwa der Wortlaut dessen ist, was man bei uns auch nachlesen kann." Trotzdem stürzen sich die deutschen Medien auf die schmutzige Wäsche. Der Botschaftstratsch- das Thema auf den Titelseiten und zur Hauptsendezeit. Und noch einmal werden die angeblich so brisanten Indiskretionen über deutsche Politiker ausgebreitet. Es ist ein wahrer Hype um die Wikileaks-Veröffentlichungen.
Zörgerliche Reaktionen beim ersten Wikileaks-Scoop
Ganz anders als beim ersten großen Scoop von Wikileaks. Über das "Collateral Murder Video" aus dem Irak wurde anfangs nur wenig berichtet. Der Mitschnitt aus einem amerikanischen Kampfhubschrauber zeigt, wie im Irak Journalisten von US-Militärs erschossen werden. Viele Journalisten zweifelten zunächst an der Echtheit des Materials. Erst als die bestätigt wurde, bewegten die Bilder die Welt. Wikileaks war nun in aller Munde.
Ziener: "Ich glaube, dass wir im Falle vom Irak beispielsweise gesehen haben, dass klar war, dass der Krieg im Irak unter einer ganz, ganz schwachen Beweislage geführt worden ist, und dass die Informationen von Wikileaks im Grunde dazu beigetragen haben, dass es keine Legendenbildung gibt."
Appenzeller: "Was wir über Afghanistan und Irak früher erfahren haben war vielleicht im Detail auch nicht sensationell, aber es hat doch ein Bild, was wir hatten, deutlich schärfer gemacht."
Und Wikileaks legt nach, liefert 75.000 Dokumente der US-Militärs aus dem Afghanistan-Krieg. Sie belegen die Zusammenarbeit des pakistanischen Geheimdienstes mit den Taliban und die Existenz von US-Geheimkommandos.
Erfolgreiche Kooperationen mit Medien
Spätestens jetzt ist Medienmachern klar: Wikileaks garantiert Aufmerksamkeit und weckt hohe Erwartungen. So hat der Spiegel für die aktuellen Enthüllungen viel investiert und Klatsch und Tratsch prominent platziert. Diese Gewichtung kritisiert der ehemalige Deutschland-Sprecher von Wikileaks, der die Kooperation mit dem Spiegel gut kennt, Daniel Domscheit-Berg: "Ich denke, es gibt relevantere Bestandteile, die man prominenter hätte stellen können und was aus meiner Sicht einen wesentlich größeren Skandal dargestellt hätte. Von daher ist es schon eine Frage, warum man mit der Oberfläche aufmacht, wenn man die Tiefe bekommen kann."
Appenzeller: "Der Scoop hat mit Deutschland nichts zu tun. Der Scoop ist das, was wir über die Gespräche der arabischen Staatsleute erfahren."
Zwar berichtet auch der Spiegel über die "heimliche Allianz" (29.11.2010) im Nahen Osten: Die brisanten Äußerungen des Saudischen König Abdulla, der die Amerikaner aufgefordert haben soll, den Iran anzugreifen. Und auch die Anweisungen an Diplomaten, die UNO auszuspähen, sind Thema. Doch das geht letztlich unter. Aufmacher der großen Enthüllungsgeschichte sind die effektvollen Indiskretionen über Politiker. Und viele deutsche Medien setzen auf die populären Details. Viel Gerede und Geraune.
Ziener: "Wir wissen nicht mal, welche Botschaftsangehörige das in jedem Fall geschrieben haben. Waren das nur fleißige Botschaftsbeamte, die sich wichtig machen wollten? Auf welchem Fundament basieren die ganzen Einschätzungen? Das wissen wir nicht."
Wikileaks handelt nach dem Prinzip: Alles was geheim ist, ist wichtig und bringt uns der Wahrheit näher. Und bei der aktuellen Veröffentlichung übernehmen viele Journalisten diese Haltung. Wikileaks bestimmt mehr und mehr das Spiel der Medien.
Ziener: "Wikileaks ist inzwischen in der sehr, aus Wikileaks Sicht, bequemen Position, die Wahrheit im Grunde ein Stück weit definieren zu können, Wikileaks gibt nur scheibchenweise die Informationen raus."
Nur die exklusiven Medienpartner der Plattform wie der Spiegel und der Guardian haben schon seit Monaten alle Dokumente vorliegen. Der Leser ist auf ihre Auswertung und auf ihre Interpretationen angewiesen. Der Spiegel lässt die Leser und Kollegen einen kleinen Blick hinter die Kulissen werfen, inszeniert sein Insiderwissen, etwa in einem Spiegel-Online-Video: "Man kann das vielleicht hier mal zeigen: Das ist der typische Header eines solchen Botschaftsberichtes. Das sieht aus wie eine etwas kompliziertere E-Mail (...)."
Auch Wikileaks ist kompliziert geworden. Es wird nicht mehr alles sofort und für alle im Netz zugänglich gemacht. Nur ein Bruchteil der über 250.000 Dokumente steht bisher online.
Domscheit-Berg: "Die Strategie dieser Veröffentlichung scheint darauf ausgerichtet zu sein, eine möglichst große Sensation über einen möglichst langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Wir haben das im Vorfeld der Publikationen schon gesehen, dass immer darüber gesprochen wurde, dass es die größte Publikation wird, dass es sieben Mal größer ist als die Irak-Veröffentlichung. Und dieser Faktor sieben wird dann daran bemessen wie viele Worte insgesamt zu finden sind."
Masse vor Inhalt. Effekt vor Bedeutung. Die Medienmaschinerie hat funktioniert - ganz im Sinne von Wikileaks.
Übrigens haben wir den Spiegel selbstverständlich um ein Interview gebeten. Schriftlich hat man uns gerne geantwortet. Und zwar dass man die Dokumente durchaus für brisant hält, "weil es interessant sei, welche Eindrücke hohe US-Diplomaten von deutschen Spitzenpolitikern haben. Schließlich sei das ein Rohstoff, aus dem Politik entstünde".