Unbeugsam - Camp gegen Zensur in Ungarn
Der Tag der Pressefreiheit - ein wichtiger Tag, denn dann kommen wieder Themen auf die Tagesordnung, die zwar relevant sind, aber im aktuellen Geschehen viel zu schnell untergehen. Ungarn ist so ein Thema. Als Regierungschef Orban dort vor eineinhalb Jahren per Gesetz die Pressefreiheit abschaffte, gab es massive Proteste in Ungarn und aufgeregte Berichte im Ausland. Seitdem ist es still geworden bei uns. Anders vor Ort. Dort leistet eine Handvoll mutiger Journalisten weiter erbittert Widerstand.
Tag 136 im Camp. Wie in Gefangenschaft zählt Balázs Nagy Navarro die Tage. Dabei ist nicht er gefangen, wie er meint, sondern MTV, der staatliche Rundfunk in Ungarn. Noch als Angestellter des Senders begann er den Streik vor dem Haupteingang - fast ein größeres Abenteuer als seine Einsätze als Auslandkorrespondent für MTV zum Beispiel im Katastrophengebiet von Fukushima. Mit seinem fließenden Japanisch war Nagy Navarro damals der wichtigste Reporter für den Sender. Inzwischen hat MTV ihm gekündigt, aber losgeworden sind sie ihn nicht.
Balázs Nagy Navarro: "Dieser Sender ist an einem Punkt angekommen, wo ich als Journalist nicht mehr arbeiten wollte. Auch nicht, wenn sie mich nicht rausgeschmissen hätten. Denn hier kann man nicht mehr ordentlich arbeiten. Wo man auf Anweisung Nachrichten fälschen und manipulieren muss, das geht nicht." (dt. Übersetzung).
Eine Bildmanipulation in einem Nachrichtenbeitrag von MTV war der Auslöser. Dabei wurde im Hintergrund der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Lomnici einfach unsichtbar, wegretuschiert. Er ist der Orban-Regierung unliebsam. Solche Personen sollten im Staatsfernsehen nicht erscheinen. Da gab es klare Anweisungen, meint die zuständige Redakteurin. In einem Brief wandte sie sich an die staatliche Medienbehörde. Sie schildert darin, wie ihr vor der ganzen Redaktion gesagt wurde: "Wenn es nicht anders geht, dann ziehe Lomnici einen Sack über den Kopf, weil er in der Reportage nicht im Bild erscheinen darf”. Heute darf die Redakteurin nicht mehr in der Nachrichtenredaktion erscheinen, eine Aufklärung zu der angeblichen Anweisung gab es nicht. Auch auf die mehrfache Anfrage von ZAPP bei MTV: keine Stellungnahme zu keiner unserer Fragen.
Streik vor dem Sender
Seitdem frühstücken die Unterstützer des Protests in zwei Wohnwagen. Alles finanziert aus Spenden. Aranka Szavuly hat sich auch gleich dem Streik angeschlossen. Auch sie verlor danach ihren Job bei MTV. Die Gewerkschafterin steht zu ihrer Überzeugung: "Das Leben war auch davor nicht einfach, weil ich oft sieben Tage gearbeitet habe, aber die letzten vier Monate haben alles übertroffen. Dennoch, mein kleiner Sohn kann später stolz sein auf seine Mama, hoffe ich." (dt. Übersetzung).
Von Anfang an versorgen Unterstützer das Camp mit dem Nötigsten. Was gebraucht wird, posten die Camper auf Facebook und es findet sich immer jemand, der helfen kann, mit warmem Tee oder auch mit einem Internetanschluss. Aber auch der Sender MTV bleibt nicht untätig. Zunächst zäunen sie die Streikenden ein, erklären das Camp zum Privatgrundstück. Dann folgen Anzeigen wegen Hausfriedensbruch. Doch nach diesen Maßnahmen kommen nur noch mehr Besucher und Unterstützer, aus ganz Ungarn. Ende Dezember kündigt der Sender den beiden Journalisten fristlos. Ihre elektronischen Hausausweise werden gesperrt. Seitdem haben sie weder Zugang zu ihren persönlichen Bürosachen noch zu Arbeitsmaterialien.
Und der Sender rüstet auf. 24 Stunden Dauerbeschallung mit dröhnender Musik, immer die gleichen zwei Weihnachtslieder. Nachts werden dann auch noch Scheinwerfer eingesetzt. Aber Nagy Navarro und seine Anhänger bleiben. Denn Krach machen können sie auch. Ein Jazz-Flashmob gegen die Beschallung. Die Streikenden feiern friedlich Weihnachten und ihren Protest bei minus 15 Grad Celsius unter freiem Himmel. Am 31. Dezember ruft Nagy Navarro vor Tausenden Sympathisanten eine neue Bewegung ins Leben: saubere Hände für unabhängige Nachrichten.
Einseitige Berichterstattung
Aber all das nutzt nichts. Bei MTV bewegt sich nichts. Es wird sogar schlimmer, denn der Sender blamiert sich ein weiteres Mal in den Hauptnachrichten. Es geht um die Bürgerproteste gegen die Regierung anlässlich der neuen Verfassung. Der MTV Reporter berichtet von einer fast leeren Straße. Andere Reporter stehen an derselben Stelle, filmen aber in die andere Richtung, zeigen die bisher größte Demonstration gegen die Orban-Regierung. Der private Sender ATV aus Ungarn, zum Beispiel die Tagesschau und sogar Aljazeera bebildern den Protest. Aber in den Hauptnachrichten von MTV erzählt der Reporter vor leerer Kulisse nur von Straßensperren und Verkehrsbehinderungen. Darauf, was sich politisch abspielt in Ungarn an diesem Tag, geht er mit keinem Wort ein.
Bei MTV bricht daraufhin Hektik aus. Dann findet sich eine Erklärung.
Àgnes Cserháti Pressesprecherin MTVA: "Der Übertragungswagen konnte den Ort nicht rechtzeitig erreichen." (dt. Übersetzung).
Seit dem ist die Szene zum Running Gag im Internet mutiert. Ein Wettbewerb wurde ausgerufen um die besten Hintergründe für den MTV-Reporter zu finden.
Balázs Nagy Navarro: "Das war ein weiteres Signal für uns. Deswegen müssen wir hier sein." (dt. Übersetzung). Und zwar bis heute. Nur die Unterstützung bröckelt. Hauptsächlich Künstler und Rentner kommen inzwischen hierher, um Aktionen zu planen.
András G. Gerö , Unterstützer: "Ich habe mich nicht nur angeschlossen, weil sie mir leid tun, sondern vor allem weil ich auch finde, dass man unverfälschte Medien braucht, Medien ohne Lügen." (dt. Übersetzung).
Journalisten-Kollegen dagegen machen sich rar. Sie sind eingeschüchtert. Schließlich ist Nagy Navarro gefeuert worden obwohl er im MTV-Betriebsrat sitzt.
Balázs Nagy Navarro: "Nur wenige haben es gewagt hierherzukommen. Die Mehrheit wagt es nicht, auch wenn der Bus direkt hier hält. Ab und zu, wenn der Bus losfährt, zeigen sie uns manchmal ein Sieges-Zeichen durch abgedunkelte Fenster, das ist natürlich ein gutes Gefühl, aber viel zu wenig." (dt. Übersetzung).
Heute wartet noch eine Herausforderung. Denn in diesen Tagen beginnt der Prozess um die Kündigungen. Nagy Navarro vertritt als Gewerkschafter sich selbst und andere Kollegen vor Gericht. Nun versucht er, seine Unterlagen aus dem Büro zu holen, wird aber wieder einmal abgewiesen. Die Fronten sind verhärtet.
Balázs Nagy Navarro: "Solange keine grundlegenden Veränderungen bei den staatlichen Medien stattfinden und solange die Fälscher und Manipulatoren dabei bleiben können und unsere Kollegen weiter terrorisieren können, solange müssen wir hier bleiben oder anderswo in anderer Form die Demonstration fortsetzen. Wie lange? Kann ich wirklich nicht beantworten." (dt. Übersetzung).
Die Pressefreiheit hat beharrliche Freunde in Ungarn.