Türkei - Journalisten im Gefängnis
In welchem Land werden wohl die meisten Menschen wegen Terrorverdachts verhaftet? In der Türkei. Wer zu kritisch ist, wer eine nicht regierungstreue Meinung veröffentlicht, wird unter dem Vorwand, irgendwie mit Terrorismus in Verbindung zu stehen, eingesperrt. Schon im April gab es eine große Verhaftungswelle, darunter vor allem Journalisten, namhafte Publizisten, internationale Preisträger. ZAPP hatte darüber berichtet und man dachte, schlimmer ginge es nicht. Aber weit gefehlt. Jetzt lässt die Regierung wieder festnehmen. Inzwischen steckt fast die gesamte regierungskritische Journaille im Gefängnis.
Intellektuelle und Journalisten werden vor wenigen Tagen in der Medienmetropole Istanbul vorgeführt und abgeführt. Einer der Festgenommenen ist der bekannte Verleger und Journalist Ragıp Zarakoğlu. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Für Menschenrechtler ist das nur ein Vorwand.
Emma Sinclair von "Human Rights Watch” meint: "Zarakoğlu ist ein 65 Jahre alter weltbekannter Verleger. Er war immer ein Verteidiger der Meinungsfreiheit in der Türkei und hat sich für die Rechte der Minderheiten eingesetzt. Es ist absurd, so einen Menschen mit illegalen Machenschaften oder gar mit Terrorismus in Verbindung zu bringen." (dt. Übersetzung).
Zarakoğlu ist nicht nur als engagierter Journalist und Menschenrechtler bekannt, sondern auch als Vorsitzender des Komitees für Meinungsfreiheit im türkischen Schriftstellerverband. Zarakoğlu erhielt neben etlichen Auszeichnungen 2008 den internationalen Preis für Publikationsfreiheit. Noch im April besuchte ihn die ZAPP Redaktion in seinem Büro und fragte, ob er befürchte, verhaftet zu werden.
Ragıp Zarakoğlu: "Ich habe nie daran gedacht, aufzugeben. Denn ich liebe meinen Beruf, ich liebe es, Bücher zu publizieren, die noch nie veröffentlicht worden sind. Meine Leidenschaft ist, Tabus zu brechen, mich mit Gedanken und Themen zu befassen, die auszusprechen anderen Angst macht. " (dt. Übersetzung).
Journalisten unter Terrorismusverdacht
Vielerorts in der Türkei demonstrierten Menschen spontan gegen die Verhaftung Zarakoğlus. Ein Protest in der bekannten Istanbuler Einkaufsstraße Istiklâl wurde vom Türkischen Journalistenverband organisiert. Hier versteht niemand, dass ausgerechnet ein Pazifist wie Zarakoğlu mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird. Sie verlangen "Justice", Gerechtigkeit, für inhaftierte Journalisten.
Der Vorsitzende des Türkischen Journalistenverbandes, Orhan Erinç, meint: "Laut einer Statistik aus dem Jahre 2009 hat die Türkei juristisch gesehen international die meisten Terroristen. Die Türkei liegt damit sogar vor China. Man kann sagen, dass wir in der Türkei regelrecht Terroristen produzieren. Wenn man Journalisten mit der Begründung verhaftet, Terroristen zu sein, dann verliert der Begriff 'Terrorist' langsam seine Bedeutung." (dt. Übersetzung).
Der oberste Journalistenverband beklagt, dass der Missbrauch der Antiterrorgesetze die Journalisten einschüchtere und sogar zu einer Selbstzensur zwingt. Regierungskritische Berichte werden sichtlich weniger und investigativer Journalismus wird von Unterhaltungsprogrammen verdrängt. Doch einige widerstehen wie die mehrfach festgenommene Kolumnistin und Menschenrechtlerin Eren Keskin.
Eren Keskin, Kolumnistin und Anwältin, erzählt: "Vor zehn, 15 Jahren haben wir uns wegen all der Morddrohungen gefragt, wann man uns erschießt. Nun fragen wir uns, wann man uns ins Gefängnis steckt. Die Zeiten und die Methoden haben sich zwar geändert, aber das Gefühl ist das Gleiche geblieben. Jede Nacht, wenn ich ins Bett gehe, frage ich mich, ob sie mich dieses Mal abholen kommen. Mit solchen Gedanken schlafe ich ein." (dt. Übersetzung).
Inzwischen sitzen 69 Journalisten in türkischen Untersuchungsgefängnissen, manche von ihnen sogar seit vier Jahren ohne Anklage. Unbekannte und auch international preisgekrönte Journalisten, Bestsellerautoren und berühmte Kolumnisten werden allesamt verdächtigt, Mitglieder von Terrororganisationen zu sein.
Eine Zeitung mit Briefen aus dem Gefängnis
Bei der Journalistengewerkschaft in Istanbul entstand daraus eine Idee: Wenn Journalisten schon die Gefängnisse füllen, dann kann man doch eine Zeitung aus den Zellen heraus publizieren. Die Gewerkschaft übernahm das Organisatorische. Hier werden die unzensierten Briefe aus den Gefängnissen zu einer Zeitung mit dem Titel "Die Verhaftete Zeitung". Darin beschreiben die Journalisten auch ihre Haftbedingungen und ihre Gefühle in dieser Situation.
Ercan Ipekçi, Vorsitzender der Türkischen Journalistengewerkschaft: "Im Juni vergangenen Jahres hatten wir zum ersten Mal die Idee, die 'Verhaftete Zeitung' herauszugeben. So schrieben wir alle Journalisten in den Gefängnissen an und baten sie, für die Zeitung zu schreiben. Wir waren der Meinung, dass die weltweit erste Zeitung von inhaftierten Journalisten in der Türkei gemacht werden muss, denn hier ist die Zahl der inhaftierten Journalisten am größten." (dt. Übersetzung).
Fünf türkische Tageszeitungen erklärten sich solidarisch und verteilen die "Verhaftete Zeitung" als kostenlose Beilage. Die zweite Ausgabe soll im Januar erscheinen. So wie es aussieht, wird sie nicht die letzte Ausgabe sein. "Die Verhaftete Zeitung", einmalig in der Welt, ist eine Besonderheit, auf die die Türkei nicht unbedingt stolz sein sollte.