Sexuelle Belästigung im Netz: Jugendschutz läuft hinterher
Hunderttausende Kinder werden Schätzungen zufolge jedes Jahr Opfer von Cybergrooming: Die Täter nutzen das Internet, um sexuelle Kontakte anzubahnen.
Celin ist elf Jahre alt, als sie bei Instagram ein "Dick Pic", also ein Foto von den Genitalien ihres Chatpartners geschickt bekommt. So ein explizites Foto sieht sie zum ersten Mal. Die heute 17-Jährige spricht nur ungern über diesen Vorfall. "Ich hab mich danach irgendwie schlecht gefühlt, weil ich mein Konto auf öffentlich gestellt hatte und das dann dadurch irgendwie zugelassen habe", erzählt sie.
"Es gibt ein großes Schamgefühl"
Die Sicherheit von minderjährigen Userinnen und Usern habe höchste Priorität, erklärt Instagram. Doch Celin ist kein Einzelfall. Das Bundesfamilienministerium geht davon aus, dass 250.000 Kinder in Deutschland online von Erwachsenen kontaktiert wurden, mit dem Ziel sie sexuell zu missbrauchen. "Eine unheimlich große Zahl, die kaum durch das, was wir jetzt an Regelungen haben, abgedeckt werden kann", erklärt Ministerin Giffey vergangene Woche auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Bundesregierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben das Jugendschutzgesetz zu reformieren. Die aktuelle Fassung stammt aus dem Jahr 2002, noch vor YouTube, Snapchat und Co.
Cybergrooming, also die Anbahnung eines solchen Kontakts, ist strafbar. Allerdings zeigen nur wenige Betroffene ihre Chatpartner an. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland laut Polizeilicher Kriminalstatistik gerade einmal 1.744 Fälle erfasst, das Dunkelfeld ist gigantisch. Kinder trauen sich oft nicht, mit Erwachsenen über ihre Erlebnisse zu sprechen, sagt auch Britta Bienia. Die Sozialpädagogin leitet im Hamburger Jugendzentrum Luur-up e.V. die Mädchengruppe. "Ich glaube, dass es ein großes Schamgefühl gibt. Alles, was intim ist, alles, was mit Partnerschaft oder mit Sexualität zu tun hat, ist in dem Alter einfach ein Thema, mit dem die Mädchen wenig Berührung haben."
Kaum Anreize für Schutz
Cybergrooming ist kein neues Phänomen. Es passiert überall dort, wo Kinder online sind. Ein großes Problem sei, dass die Plattformen wenig Anreiz haben, Kinder vor Cybergrooming zu schützen, erklärt Marc Liesching, Professor für Medienrecht an der Hochschule für Technik, Kultur und Wirtschaft Leipzig. "Plattformanbieter sind gar nicht verantwortlich für Fremdinhalte, wenn sie keine konkrete Kenntnis haben. Das europäische Recht sagt auch dazu noch, dass sie überhaupt gar nicht verpflichtet sind, Überwachungen proaktiv durchzuführen. Von dieser Verpflichtung sind sie ausgenommen."
"Brutherd für Pädophile"
In der Recherche fällt ZAPP immer wieder ein Onlinespiel auf: MovieStarPlanet. In der virtuellen Spielwelt können sich die Nutzer und Nutzerinnen unter anderem Haustiere kaufen, im Café abhängen oder "Lookbooks" mit verschiedenen Outfits erstellen. Im Google Play Store wurde die App mehr als zehn Millionen Mal heruntergeladen. Auf seiner Webseite schreibt das Unternehmen im Jahr 2015, es habe weltweit 250 Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Auf Nachfrage erklärt ein Unternehmenssprecher, das Spiel richte sich an 8 bis 15-Jährige Jungen und Mädchen. Im Appstore von Apple finden sich auch Kommentare wie dieser, das Spiel sei ein "Brutherd für Pädophile". Ein anderer: "Liebe Eltern passt bitte auf, was die Leute da schreiben, sind einige dabei, die machen richtige sexuelle Belästigung."
Wir melden uns an. Um die Chatfunktion nutzen zu können müssen wir angeben, dass wir 16 Jahre alt sind, überprüft wird das nicht. Nach wenigen Minuten erreichen uns die ersten Nachrichten, von einem Profil mit dem Namen "jamesbond0072002". Wir geben uns als Schulkind zu erkennen. Nach einem kurzen Austausch fragt uns jamesbond0072002, ob wir den Chat in der App Snapchat weiterführen möchten, "hier wird alles zensiert". Er bietet weiter an "ich mache alles was du willst". Ein anderer User fragt uns, ob wir schon "pervers" seien.
Wir konfrontieren MovieStarPlanet mit unseren Erlebnissen in ihrem Chat. Die Antwort des Unternehmens beginnt mit einem Gegenvorwurf: Dass wir uns als Erwachsene auf der Plattform möglicherweise mit Kindern ausgetauscht haben, "verstößt gegen die Geschäftsbedingungen von MovieStarPlanet und ist potenziell illegales Verhalten".
MovieStarPlanet legt ausführlich dar, welche Sicherheitsmaßnahmen sie trotzdem einsetzten. Chats würden automatisch "überwacht und unangemessene Wörter blockiert". Nutzer könnten sich jederzeit an "Moderatoren" wenden, Verstöße gegen die Regeln würden streng "verfolgt".
Regelungen schwer durchsetzbar
Die geplante Reform des Gesetzes von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey soll digitale Plattformbetreiber wie Instagram, Snapchat oder MovieStarPlanet künftig zu sicheren Voreinstellungen für die Profile von minderjährigen Usern verpflichten. Minderjährige sollen nicht mehr von Fremden angechattet werden können. Risiken, die durch den Austausch mit anderen Usern entstehen, sollen in die Altersempfehlung von Spieleplattformen einfließen. Meldesysteme sollen es leichter machen, Verstöße zu verfolgen.
Medienrechtler Marc Liesching glaubt allerdings nicht, dass diese Regelungen rechtlich durchsetzbar sind. "In europarechtlicher Hinsicht werden die großen marktrelevanten Player, die in anderen EU-Staaten sitzen, durch dieses Gesetz überhaupt nicht verpflichtet." Gemeint ist etwa Facebook mit Sitz in Irland. Und MovieStarPlanet ist ein dänisches Unternehmen.
Das Bundesfamilienministerium antwortet auf unsere Nachfrage, die geplanten Regeln fänden "ausdrücklich auch auf ausländische Anbieter Anwendung, sofern die Dienste für Kinder und Jugendliche in Deutschland relevant sind." Verstöße dagegen seien mit "empfindlichen Bußgeldern abgesichert". Für die Kontrolle der neuen Vorgaben werde eine neue Bundeszentrale für Kinder - und Jugendmedienschutz mit entsprechendem Personal eingesetzt. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) hat diese diese Pläne scharf kritisiert. Es drohe Unsicherheit über die Zuständigkeiten von Bund und Ländern. Die Länder sind bisher für den Jugendmedienschutz in Rundfunk und Internet verantwortlich, der Bund für sogenannte Trägermedien, etwa DvDs und CD-ROMs.
Liesching geht nicht davon aus, dass Kinder durch das neue Gesetz besser vor Cybergrooming geschützt werden können. Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf inzwischen beschlossen. Nun muss der Bundestag noch darüber entscheiden.