Journalistisches Wunschdenken
"Herbeigetalkter" Rechtsruck? Solange wir uns vormachen, es wäre die Schuld der öffentlich-rechtlichen Medien, werden wir das Problem nicht begreifen, meint Redaktionsleiterin Annette Leiterer.
Die politischen Talkshows von ARD und ZDF genießen das Privileg der ausgiebigen Medienkritik. Oft zu recht. Kritisiert wird das TV-dramaturgische Korsett, dem Inhalte sich unterordnen. Wahlweise geht es um die Auswahl der Gäste oder die dompteurhafte Gesprächsführung. Auch ZAPP hat immer wieder über die Machart von Talkshows kritisch berichtet. Zuletzt ging es um die Frage, ob die Talkshows der Alternative für Deutschland (AfD) nicht zu häufig eine Bühne bieten.
Talkshows als Ursache des Rechtsrucks?
Nun, nach diesem Wahlabend, gelten die Talkshows einigen nicht mehr nur als Verstärker, sie werden gleich zur Ursache des Rechtsrucks, der im Ergebnis der gestrigen Bundestagswahl seinen Ausdruck findet.
Ja, das wäre schön. Denn dann wäre es ja einfach, dem Rechtsruck entgegenzuwirken. Talksshows abschaffen, AfD verschweigen - aus die Maus. Dahinter steht eine Vorstellung, die Medien mehr Macht und Journalisten mehr Einfluss zuweist, als sie gemeinhin haben. Selbstüberschätzung nennt man das wohl und interessanterweise wird ja gerade die von Seiten der AfD-Wählerschaft hin und wieder Journalisten vorgeworfen. Aber tatsächlich: Wer meint, dass die vielen Menschen, die nun die AfD gewählt haben, diese nicht gewählt hätten, wenn in ARD und ZDF nicht so viel über sie berichtet hätten, scheint die Meinung von immerhin knapp 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu negieren.
Knapp 13 Prozent mit liberaler Gesellschaft nicht einverstanden
Wir müssen uns vielmehr klar machen, dass viele Menschen in Deutschland - zumindest diese knapp 13 Prozent - keine Fremden wollen, Emanzipation blöd finden, die Erinnerung an das Dritte Reich nicht als notwendige Mahnung, sondern als überflüssig begreifen. Es gibt ganz offensichtlich viele Menschen, die mit unserer liberalen Gesellschaft nicht einverstanden sind. Solange wir uns vormachen, dass das alles nur von öffentlich-rechtlichen Medien gemacht wird, wie auch Joachim Herrmann (CSU) in der Berliner Runde mit Verve behauptete, besteht nicht mal die Chance, das Problem zu begreifen. Den Wunsch kann ich verstehen, aber den "herbeigetalkten" Rechtsruck halte ich für Wunschdenken.