Warum Wikileaks vielen Medien nicht geheuer ist
Es geht um geheime Quellen. Es geht um Wikileaks, eine Internetplattform. Ein in der vergangene Woche bekannt gewordene Video wurde dort publiziert. Es zeigt die Aufnahmen aus einem US Militärhubschrauber aus dem Irak 2007. Soldaten feuern kaltblütig auf eine Gruppe Männer, darunter zwei Reuters Mitarbeiter. Zapp und viele andere Medien haben groß darüber berichtet. Jetzt wollen wir Wikileaks selbst ins Visier nehmen, denn die Internet-Aktivisten offenbaren zwar Geheimnisse, bleiben aber selbst eins. Zapp über die Geheimniskrämer im World Wide Web und ihre Bedeutung für den Journalismus.
Eine Internetplattform macht Karriere, in allen Medien, in aller Welt. Seit einer Woche steht die "Globale Enthüllung" (Der Spiegel, 12.04.2010) von Wikileaks im Mittelpunkt: ein schockierendes Video, das bislang unter Verschluss gehalten wurde. Es dokumentiert das Vorgehen des US-Militärs im Irak 2007. Daraufhin wird überall dieselbe Frage gestellt: "Wer sind Wikileaks?" Die meisten Aktivisten arbeiten im Verborgenen. Nur wenige Gesichter sind bekannt wie Julian Assange. Er präsentierte das Video in Washington der internationalen Presse. Das einzige deutsche Gesicht von Wikileaks ist Daniel Schmitt, so nennt er sich. Anonymität schützt. Denn die Mission von Wikileaks ist Geheimnisverrat.
Daniel Schmitt: "Unsere Erfahrung ist, dass in der Regel die Informationen, die andere versuchen zu unterdrücken, die so klassifiziert werden, dass die Publikation schwierig wird, die man versucht über rechtliche Mechanismen zu unterdrücken oder wie auch immer, dass gerade diese Information es ist, die interessant ist."
Damit ist Wikileaks ein Problem für alle, die Informationen unter Verschluss halten: Regierungen, Firmen, Banken. Wikileaks veröffentlicht alles, Hauptsache es ist brisant. Etwa der Feldjägerbericht über den NATO-Luftangriff bei Kundus auf entführte Tanklastzüge. Hier war schon früh von zivilen Opfern zu lesen. Oder interne Handbücher aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo, die die psychologischen Foltermethoden des Militärs belegen. Dokumente, die bisher Journalisten zugespielt wurden.
Geheime Dokumente für alle zugänglich
Markus Grill, Redakteur des Spiegels, meint: "Es ist eine interessante Neuerung, dass Dokumente, bisher geheime Dokumente, Sachen, die nicht veröffentlicht werden sollen, nicht in irgendwelchen Zeitungen auftauchen oder sonstigen Publikationen, sondern auf einer Internetplattform, und zwar nur da."
Immer wieder versuchen Konzerne, per Gerichtsbeschluss die Webseite dicht zu machen, erfolglos. Geheimdienste beobachten das Portal. Die Spionageabwehr der US-Streitkräfte widmet Wikileaks einen eigenen Bericht. Darin wird die Seite als potenzielle "Gefahr" für das US-Militär bezeichnet. Hunderte von Informanten haben bis heute geheime Dokumente zu Wikileaks geschickt. Und nicht direkt an die Medien.
Markus Grill: "Wenn ein Informant einem Printmedium Informationen zur Verfügung stellt, dann kann er die weniger kontrollieren. Dann macht man daraus eine Geschichte und am Ende weiß ich nicht, als Informant zum Beispiel, wie viel von meiner ursprünglichen Absicht da in der Geschichte drin steckt, also ob die wirklich meinen Intentionen folgen."
Und Harald Schumann, Redakteur des Tagesspiegels, erklärt: "Es gibt ja auch ganz viele Leute, die einfach keine vertrauenswürdigen Journalisten kennen. Ich meine, der Ruf unserer Branche ist ja nicht zufällig schlecht. Sondern der hat natürlich auch damit zu tun, dass es eben auch viele Kollegen in unserer Branche gibt, die relativ unseriös arbeiten und die ihre Quellen nicht sicher schützen.
Absolute Anonymität der Quellen
Wikileaks braucht keinen persönlichen Kontakt zum Informanten, keine geheime Übergabe. Ihnen reicht ein Dokument. Daniel Schmitt: "In der Welt ist Information als Rohmaterial immer wichtiger. Und die Frage ist: Brauchen wir in Zukunft mehr Veröffentlichungen dieser Rohmaterialien, damit wir alle im Detail verstehen können, was passiert? Oder brauchen wir dieses alte Modell, in dem Journalisten die Quellenmaterialien, die sie haben, für sich behalten und nicht weiter veröffentlichen?"
In Island hat das System Wikileaks funktioniert besser als der Journalismus. In der Finanzkrise gehen die Isländer auf die Straße. Fordern ihr Geld zurück und Aufklärung. Die Kaupthing-Bank ist pleite, mit ihr das ganze Land. Da taucht bei Wikileaks ein Dokument auf. Es offenbart: Die Bank wurde noch kurz vor der Pleite von ihren Aktionären ausgenommen. Noch bevor die isländischen Medien über das Dokument berichten können, berufen sich die Beschuldigten auf das Bankgeheimnis. Fünf Minuten bevor die Hauptnachrichten auf Sendung gehen, wird der Beitrag gerichtlich untersagt.
In den Nachrichten des isländisches Fernsehens wird deswegen gesagt: "Wir dürfen Ihnen heute leider nicht alle Nachrichten melden." Stattdessen zeigt die Redaktion die Web-Adresse von Wikileaks - Minutenlang. Tausende Isländer informieren sich auf der Seite. Die Bank droht mit juristischen Schritten. Aber dagegen ist sich Wikileaks gut abgesichert.
Schutz vor juristischem Druck
Harald Schumann: "Das ist schon ein sehr kluges Konzept. Es verbindet halt die modernen technischen Möglichkeiten des Netzes mit den Überlegungen, wo gibt es welches gute Presserecht und wie können wir das für uns nutzen?"
In der Praxis sieht das so aus: Wikileaks bekommt ein Dokument zugespielt. Bevor es veröffentlicht wird, prüfen freiwillige Wikileaks-Mitarbeiter, ob das Dokument echt ist. Wenn mehrere Freiwillige das Papier geprüft haben, wird das Dokument auf verschiedene Server verteilt, weltweit. Anschließend wird es mit einer kurzen Beschreibung auf wikileaks.org veröffentlicht. Die Server stehen zum Beispiel in Schweden. Dort gibt es eindeutige Gesetze zum Schutz der Presse und ihrer Quellen. Dadurch ist es schwierig, die Publikation zu unterbinden. Fällt ein Server aus, ist das Dokument immer noch über andere Rechner verfügbar. Dabei versprechen die Macher ihren Quellen hundertprozentige Anonymität. Sie vertrauen auf ihre Technik. Daniel Schmitt: "Es wird niemals möglich sein, jemandem faktisch technisch nachzuweisen, dass er uns ein bestimmtes Dokument online zum Beispiel zugespielt hat."
Die Mechanismen scheinen zu greifen. Bis heute wurde keine Quelle von Wikileaks enttarnt. Bislang konnte ihnen auch kein Fehler nachgewiesen werden. Fälschungen wurden enttarnt und also solche gekennzeichnet.
Fehlende Einordnung und die Frage des Datenschutzes
Dennoch stoßen Laien und auch Journalisten bei manchen Wikileaks-Dokumenten an ihre Grenzen. Denn vieles ist ohne Hintergrundwissen kaum oder gar nicht verständlich. Beispiel Kundus-Bericht: Zwar bietet Wikileaks eine kurze Legende der wichtigsten Abkürzungen. Verständlicher wird das Militärdeutsch dadurch nicht. Denn nur Insider können Kürzel wie "INCSPOTREP 001" oder "OCC-P KDZ" richtig deuten.
Harald Schumann: "Für viele Dokumente gilt das, dass man die so erst mal nicht versteht. Dass die journalistisch aufbereitet werden müssen, damit das allgemeine Publikum überhaupt was damit anfangen kann. Aber das ändert ja nichts daran, dass man sie trotzdem braucht für eine gute Geschichte."
Ein weiteres Problem: der Datenschutz. Einige Daten werden von Wikileaks gelöscht. Andere dagegen stehen zur vollen Verfügung. Zum Beispiel Mitgliederlisten der rechten "British National Party" mit Adressen, Telefonnummern, E-Mails. Markus Grill: "Da muss man natürlich schon abwägen. Und ich frage mich, wer wägt da ab? Es gibt ja sozusagen keinen nachvollziehbaren Kodex oder so was. Also nach welchen Kriterien im Prinzip Wikileaks Dokumente veröffentlicht und nach welchen sie dann vielleicht von Veröffentlichung absieht?"
Im Zweifel veröffentlichen die Aktivisten ein Dokument - ohne Rücksicht. Öffentliches Interesse geht für Wikileaks immer vor Privatsphäre. Daniel Schmitt: "Information ermöglicht es uns im Idealfall zu verstehen, warum unsere Mitmenschen so sind, wie sie sind. Und das kann dazu führen, dass wir alle besser miteinander umgehen."
Finanzierung durch Spenden
Ein idealistischer Ansatz, der Kosten verursacht. Die Wikileaks-Macher hoffen, dass ihre Mitmenschen auch freiwillig dafür bezahlen. Hauptproblem: Wer zahlt für Informationen, die für jeden frei zugänglich sind?
Daniel Schmitt: "Es gibt in der Tat dieses Problem, dass in dem Moment, wo wir Informationen publizieren, diese Information wertlos wird. In dem Moment, wo eine Information jeder hat, traut sich fast niemand mehr darüber zu schreiben, einfach weil man Gefahr läuft, das jemand anders mit der Analyse schneller ist und man den Scoop nicht mehr hat."
Markus Grill: "Ich glaub, dass es diesen Mechanismus gibt, aber ich halte ihn für fatal und für falsch. Es ist sozusagen ein falsches Verhalten von Journalisten zu glauben, wenn eine Dokumentensammlung, wenn die öffentlich ist, dass es dann nichts mehr zu entdecken gäbe, keine Juwelen, keine Skandale mehr. Das ist ein Irrtum."
Beim Irak-Video hat Wikileaks erstmals den Skandal klar benannt, den Inhalt des Videos aufbereitet, eindeutig Position bezogen. Sie bezeichnen den Angriff des Militärs als "Mord". Diese emotionale Einordnung umstritten, aber erfolgreich. In den letzten Tagen erhielten die Aktivisten so viele Spenden wie noch nie. Eine gute Nachricht für Wikileaks. Die Internetplattform, keine Konkurrenz, sondern ein ernst zu nehmender Partner für den Journalismus.
Markus Grill: "Wenn also sozusagen, die Schwelle zu einem Verrat niedriger wird, das ist was, wovon der Journalismus profitiert." Harald Schumann: "Wikileaks kann einfach eine viel größere Zahl von potenziellen Informanten für den Journalismus erschließen und dadurch wesentlich bessere und größere Recherchegeschichten ermöglichen, als es früher möglich war."