Straßen mit spannenden Geschichten
von Karl Dahmen
Auf den ersten Blick sieht er aus wie eine Mondlandschaft voller ungewöhnlicher Bauwerke. Auf den zweiten Blick denkt man an einen Riesen, der hier mit Steinen wie mit Bauklötzen spielt. Beim dritten Blick aber erkennt man, dass die Wirklichkeit noch viel ungewöhnlicher ist als alles, was man sich vorgestellt hat. Denn der Platz am Rande Kiels birgt einen Schatz aus Granit, Basalt und Dolomit.
Ein steinernes Durcheinander
Auf dem Betriebshof Wellsee liegen ehemaligen Straßen Kiels als steinernes Durcheinander. Da ist etwa ein großen Haufen kleiner schwarzer Steine: Sie alle waren einst die Beselerallee und verbanden die Förde mit einer der Hauptstraßen von Kiel, der Holtenauer Straße. Sie wurden schon vor mehr als zehn Jahren aus ihrem Straßenbett gerissen. Gräser und Blumen wachsen nun zwischen den Steinen hervor.
Eine Straße und ihre Geschichte
Die schweren Granitsteine im Norden des Steinlagers gehören zur Andreas-Gayk-Straße. Sie entstand erst 1950 auf dem Schutt des kriegszerstörten Kiel und wurde rasch zu einer der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt. Durch sie konnte die parallel laufende Holstenstraße für den Verkehr gesperrt werden - für die erste Fußgängerzone Deutschlands. Auch sie wurde vor einigen Jahren herausgerissen für eine Asphaltdecke und bessere Radwege. Und so liegen hier die Steinhaufen nebeneinander, die alle einmal Straßen gewesen sind: die Schleusenstraße und die Droysenstraße, die Goethestraße und die Waitzstraße und viele andere.
Glattgeschliffen von der Zeit
Einst trugen sie Menschen und Autos. Viele sind sogar glattgeschliffen durch die schweren eisenbeschlagenen Rädern der Pferde-Fuhrwerken, denn manche Straßensteine sind schon mehr als einhundert Jahre alt. Die Waitzstraße zum Beispiel, die hier nun in den Himmel ragt, hat bereits vor 151 Jahren ihren Namen bekommen, als Schleswig-Holstein noch zu Preußen gehörte.
Das Leben der Steine
Alle haben sie ihre Geschichte und haben die Menschen getragen, die an und auf ihnen gelebt haben. Matrosen bei der Novemberrevolution, SA-Marschkolonnen, nachdem die Nazis auch in Kiel die Macht übernommen hatten, Flüchtlinge nach dem Krieg und Spätheimkehrer. Dann kam das Wirtschaftswunder und später die Modernisierung der Städte, durch die die Straßen in ihrer ursprünglichen Form ausgemustert wurden.
Aufbewahrt für Neues
Es ist wohl ein einzigartiger Platz in Kiel-Wellsee. Früher, so erzählt Fred Krahnert, der für die Stadt Kiel den Platz hütet, hat man die Steine einfach in Kiesgruben geschüttet - ganz nach dem Motto, aus den Augen aus dem Sinn. Heute nutzt die Stadt die Steine um Straßen auszubessern, in denen noch der alte Belag liegt. Sie hofft, dass mit den alten Steinen vielleicht auch mal wieder neue Straßen gebaut werden können.
In unserer Zeitreise erzählen wir die Geschichte dieses einzigartigen Platzes, auf dem die Straßen in den Himmel ragen.