Verurteilte Schwule: "Eine Schande" bis heute
Plötzlich leuchten an allen Seiten des Autos helle Taschenlampen auf. Klaus Born braucht einige Momente, um zu verstehen, was gerade passiert: Die Polizei hat ihn auf frischer Tat ertappt - beim Sex mit einem anderen Mann.
"Unzucht zwischen Männern"
Damals - im Herbst 1965 - war dies eine Straftat. Bis zu fünf Jahre Gefängnis drohten für "Unzucht zwischen Männern". Das besagte Paragraf 175 des Strafgesetzbuches. Schon ein Zungenkuss konnte ausreichen, um im Gefängnis zu landen.
Nachdem Born sich angezogen hat, führen ihn die Polizisten aus dem Berliner Hinterhof zur "grünen Minna", die vorne an der Straße wartet. Klaus Born kommt in Untersuchungshaft. Rund einen Monat später - am Tag nach seinem 21. Geburtstag - wird Klaus Born verurteilt.
Heute ist Klaus Born 69 Jahre alt. Die Zeiten für Schwule haben sich geändert. Vor Jahren schon ist Born mit seinem inzwischen verstorbenen Freund eine Lebenspartnerschaft eingegangen. Die beiden feierten ihre "Hochzeit" sogar mit einem Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Kurfürstendamm.
Urteil ist noch immer rechtskräftig
Aber Born demonstriert nach wie vor jedes Jahr auf dem Christopher Street Day in Berlin für die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Das Urteil von 1965 ist noch immer rechtskräftig, der Schuldspruch hat bis heute Bestand. Die Festnahme war für ihn ein Schock. "Da bin ich nie drüber weggekommen. Bis heute nicht."
50.000 Schwule nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilt
Zwischen 1949 und 1969 wurden in der Bundesrepublik etwa 50.000 homosexuelle Männer verurteilt. Der Paragraf 175 galt nach 1945 unverändert in jener Fassung weiter, mit der die Nazis Tausende schwule Männer ins Gefängnis gebracht hatten.
Zwar hat sich Deutsche Bundestag im Jahr 2000 dazu bekannt, "dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafandrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind". Aber kein Gericht und keine Regierung hat das geschehene Unrecht seither zurückgenommen.
"Eine Schande" sei das, sagt Klaus Beer. Er war Mitte der 1960er-Jahre Richter am Amtsgericht in Ulm. Er selbst hat sechs schwule Männer verurteilt. Einer der Schuldsprüche ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Er verurteilte den damals 62 Jahre alten Paul G. zu zwei Monaten Gefängnis. Paul G. war bereits sechs Mal wegen "Unzuchts zwischen Männern" vorbestraft und galt somit als "rückfällig".
"Erbarmunglos, eine Verletzung der Menschenwürde"
Die Verbüßung der Strafe setzte Beer auf fünf Jahre zur Bewährung aus. Im Urteil vermerkte er penibel den Grund für die extrem lange Bewährungszeit: "Damit der Angeklagte einen Druck in Richtung auf die endgültige Abkehr seiner Betätigung erfährt." Heute sieht der 81-jährige Jurist sein Urteil anders: "Das ist natürlich erbarmungslos, eine Verletzung seiner Menschenwürde."
Der Bundestag hat die Urteile gegen alle von den Nazis bestraften Paragraf-175-Opfer aufgehoben. Doch die Urteile der BRD-Gerichte tasten Regierung und Bundestag nicht an. "Das ist eine Schmach für die deutsche Politik", sagt der ehemalige Richter Beer. "Es ist eine Schande, dass man jahrzehntelang, bis fast alle tot sind, nicht an die Aufhebung denkt."
Auch Günter Müllenberg, heute 87 Jahre alt, gilt immer noch als rechtskräftig verurteilter Straftäter. Er wurde 1955 von einem anderen Mann wegen seiner Homosexualität angezeigt. "Bevor ich in die grüne Minna stieg, kriegte ich noch Handschellen an. Ich habe mich wie ein Schwerverbrecher gefühlt", sagt er. "Heute kann man darüber lachen, aber damals war das schon ernst." Warum sein Urteil nicht längst aufgehoben wurde, kann Günter Müllenberg nicht verstehen.
Ehemaliger Richter fordert Aufhebung der Urteile und Entschädigung
Der ehemalige Richter Beer fordert die Bundesregierung auf, endlich alle Urteile pauschal aufzuheben und die damals Verurteilten zu entschädigen. Auch seine eigenen Urteile sieht er heute als Unrecht an.
Das Bundesjustizministerium teilt auf Anfrage von Panorama - die Reporter mit, dass die Regierung die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts außerordentlich ernst nehme. Man prüfe derzeit eine Aufhebung der Urteile. Dies verstoße aber möglicherweise gegen die Verfassung. Das Ministerium beruft sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Es hat die Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen 175 geprüft und bestätigt. Das war im Jahr 1957.