Mythos deutsches Brot
Mit schnellen Bewegungen knetet er den Teig. Bäcker Otto Wilke steht wie jede Nacht in seiner Backstube in Born auf dem Darß und bereitet das Brot für den nächsten Tag vor. Besonders wichtig dafür ist ein unscheinbarer Teigklumpen in einer kleinen Schüssel auf der Fensterbank: sein Sauerteig. Der wird immer wieder vermehrt und ist die Grundlage für seine Brote. "Das ist mein Startkapital", so Wilke. Er sagt, er stelle seinen Sauerteig noch ganz ohne industrielle Hilfe her - im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Bäcker.
Sauerteig vom Fließband
In der Fabrik Böcker in Minden wird Sauerteig in riesigen Kesseln gerührt und anschließend in kleinen Würfeln auf das Fließband geworfen. Damit setzen Bäcker dann ihren eigenen Sauerteig an. Geschäftsführer Georg Böcker schätzt, dass fast jeder deutsche Bäcker, der Sauerteig selber macht, auf seine Kulturen zurückgreift. Für das typische Brotaroma nutzen Bäcker aber auch getrockneten Sauerteig oder minderwertige Teigsäuerungsmittel, auch Kunstsauer genannt.
Solche Industrieprodukte sparen Zeit und sollen für eine gleichbleibende Qualität sorgen. Aus diesem Grund werden auch jede Menge Backmittel eingesetzt - wie zum Beispiel Verdickungsmittel, Emulgatoren und Säureregulatoren. Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer kritisiert ihren Einsatz, denn ein gutes Brot brauche vor allem Zeit. Durch einen langwierigen Gärprozess werden zum Beispiel problematische Getreideinhaltsstoffe abgebaut. Wird der Herstellungsprozess dagegen durch Zusatzstoffe beschleunigt, also die traditionelle Teigführung durch Chemie ersetzt, bleiben diese Stoffe im Brot. Sie können Magenbeschwerden auslösen und dem Körper Mineralstoffe vorenthalten.
Gutes Geschäft für Backmittelindustrie
Nicht nur Zusatzstoffe, auch Backmischungen sind ein unbeliebtes Thema. Bei einer Bäckereiumfrage in Norddeutschland haben fast alle Verkäuferinnen beteuert, sie würden das gesamte Sortiment selbst herstellen. Erst als sie auf branchenbekannte Backmischungen im Brotregal angesprochen wurden, gaben viele zu, diese Industrieprodukte zu nutzen. Für die Backmittelbranche ist das ein gutes Geschäft: Sie verdient nach Schätzungen des Backzutatenverbandes etwa 1,6 Milliarden Euro im Jahr. 2009 hat sie rund 130.000 Tonnen Backmittel und Backgrundstoffe abgesetzt.
Immerhin müssen bei verpackten Broten die Zutaten aufgelistet werden. Doch nicht alles, was irgendwann dem Teig zugesetzt wurde, gilt als Zutat. Technische Hilfsstoffe, die den Teig maschinengängiger machen, müssen nicht genannt werden. Dazu gehören zum Beispiel Enzyme: Die industriell hergestellten Eiweißstoffe sollen die Backeigenschaften verändern. Oft werden Enzyme aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen gewonnen. Das gilt zwar nicht als gesundheitsgefährdend, aber der Verbraucher erfährt davon nichts.
Tiefkühlware für Handwerksbäcker
Genau wie das Geschäft mit Enzymen wächst auch der Umsatz von tiefgekühlten Backwaren. Nach Angaben des Deutschen Tiefkühlinstituts hat sich der Absatz von Tiefkühl-Backwaren in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Allein 2010 wurden demnach rund 450.000 Tonnen tiefgekühlte Brote und Brötchen verkauft. Auch das Berliner Unternehmen Dewiback ist gut im Geschäft. Seine tiefgekühlte Ware liefert es auch an Handwerksbäcker. Die Transporter sind schlicht weiß gehalten, kein werbendes Firmenlogo weist auf den Inhalt hin. "Die Bäcker wollen natürlich ihr Image als Frischebäcker verteidigen", erklärt Geschäftsführer Michael Decius.
Die Handwerksbäckereien wollen ihren Kunden ein möglichst umfangreiches Sortiment anbieten. Da sie das aber allein nicht schaffen, steckt auch in ihren Produkten meist mehr Industrie als vermutet. Der Präsident des Deutschen Bäckerhandwerks möchte den Einsatz von Backmitteln und Backmischungen nicht grundsätzlich kritisieren: "Ich verteufel doch auch nicht Mercedes, weil er eine Bosch-Navigation einbaut, deswegen ist es für mich immer noch ein Mercedes."
Deutsches Brot als Weltkulturerbe?
Der Bäckerpräsident ist von der Qualität und Vielfalt des deutschen Brotes sogar so überzeugt, dass er es zum Weltkulturerbe erklären lassen möchte. Die fortschreitende Industrialisierung und der starke Konzentrationsprozess sprechen für ihn offenbar nicht dagegen. Jedes Jahr müssen hunderte kleine Handwerksbäcker aufgeben. Das meiste Brot wird längst nur noch von wenigen großen Backfabriken hergestellt, denn knapp zwei Drittel ihres Brotes kaufen die Deutschen in Supermärkten und Discountern.