Chris Köver: "Es mangelt an Respekt."
Chris Köver ist Mitherausgeberin des feministischen Blattes "Missy Magazine". Für sie ist Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem, über das zu wenig geredet wird.
Laut einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums war jede vierte Frau in Deutschland schon einmal Opfer von körperlichen oder sexuellen Übergriffen ihres Partners. Wird in Deutschland ausreichend über Sexismus und Gewalt gegen Frauen gesprochen?
Chris Köver: Nein, und vor allem wird beides viel zu wenig miteinander in Verbindung gebracht. Körperliche und sexualisierte Gewalt von Männern gegen Frauen ist keine zufällige Sammlung von Einzelfällen. Es ist ein strukturelles Problem. Und an der Wurzel liegt die gleiche Ursache, die auch dazu führt, dass Frauen an anderen Stellen den Kürzeren ziehen: mangelnder Respekt. Es herrscht in unserer Gesellschaft eine immer noch erschreckend starke Überzeugung, dass Frauen Männern irgendwie zustehen würden, dass sie ihre eigenen Interessen zurückstellen sollten, um Männer zufrieden zu stellen. Dass sie nett, bescheiden und unterstützend sein sollten und dass sie wahrscheinlich selbst schuld waren, wenn sie vergewaltigt oder geschlagen wurden. Das sagen die wenigsten so offen, aber wie mit rassistischen Überzeugungen merkt man es überall dort, wo das gesellschaftliche Unterbewusstsein mal unkontrolliert an die Oberfläche dringt.
Es gibt in Deutschland große Erfolge in Sachen Gleichstellung von Frau und Mann. Bekommen Debatten über Gewalt gegen Frauen darum vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit?
Köver: Feminismus ist eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts. Aber die Behauptung, dass Frauen bereits gleichberechtigt sind, wird von den Zahlen nicht gestützt. Nicht, wenn wir uns die Lohnunterschiede anschauen, die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und vor allem nicht bei den Gewaltstatistiken. Wir hatten in den letzten Jahren Aktionen wir den "SlutWalk" und "OneBillionRising", die darauf aufmerksam machen sollten. Aber ich fürchte, mit dem Thema ist es wie mit dem Nahost-Konflikt: Es ist so alt, dass es kaum noch jemand hören mag.
Inwiefern hat auch die sogenannte "#Aufschrei-Debatte" versteckte Gewalt gegen Frauen offen gelegt?
Köver: "#Aufschrei" war extrem wichtig, weil es Frauen in ihrer geteilten Erfahrung mit Sexismus und Gewalt zusammengebracht hat und klar gemacht hat: Du bist nicht die Einzige, die diese Scheiße erlebt! Du bist nicht allein und vor allem: Das ist nicht normal. Wir hatten in Deutschland wieder einen Streit über Sexismus, konnten dieses Wort überhaupt wieder verwenden. Das ist etwas Wert, selbst wenn am Ende vor allem Verwirrung zurückgeblieben zu sein scheint. Sexismus hat nichts mit Sex oder Flirten zu tun hat, sondern mit Macht und Gewalt. An diesem Punkt der Debatte sind wir als feministische Aktivistinnen schier verzweifelt, weil es selbst nach wochenlangen wiederholten Erklärungen immer noch nicht klar zu sein schien. Vielleicht sollten wir ein Kasperle-Theaterstück dazu entwickeln. "Aufschrei" hat in jedem Fall einen messbaren Erfolg zu verbuchen: Wir haben seitdem ein Drittel mehr Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle, und zwar explizit aufgrund der öffentlich geführten Debatte, die die Arbeit dieser Stelle überhaupt erst bekannt gemacht hat.
Werden Themen wie Sexismus und häusliche Gewalt ihrer Auffassung nach eher im Internet debattiert?
Köver: Das Internet ist ein gutes Forum, weil es das Netzwerk viel größer macht. Früher hatten Frauen in ihrem Freundeskreis oder ihrer Gemeinde diese Konversationen, das Netz hat diesen Raum und den Kreis der potentiell am Gespräch Beteiligten ausgeweitet. Ich kann dort jetzt von anderen lesen, die ich sonst nicht getroffen hätte und mit ihnen kommunizieren. Diese Begegnungen schwappen dann teilweise ins reale Leben über und führen zu Freundschaften, Allianzen und Aktionen, die offline stattfinden. Das ist schön. Gleichzeitig ist das Netz ein unglaublich brutaler Raum, was die Diskussionskultur und den Umgang miteinander angeht. Die Gewalt, die befreundete feministische Aktivistinnen wie Anna-Katharina Meßmer oder Anne Wizorek im Netz angedroht bekommen - von Beschimpfungen bis zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen - das ist noch mal ein Thema für sich. Und auch darüber wird viel zu wenig gesprochen.
Wie sieht der Austausch unter den Frauen in Internet aus?
Köver: Sie bloggen, sie twittern unter Hashtags wie "#Aufschrei" oder "#yesallwomen", sie machen Videos. Sie gründen Tumblr-Blogs wie das neue Blog von Deanna Zandt "When Women Refuse", das Fälle sammelt, in denen Frauen Gewalt angetan wird, nachdem sie Männer zurückgewiesen haben. Sie nutzen einfach alle Möglichkeiten und Plattformen, die das Netz bietet. Und vor allem analysieren sie, wie all diese verschiedenen Ereignisse mit Sexismus zusammenhängen. Sie kritisieren sich auch gegenseitig: Schwarze Frauen haben zum Beispiel zu Recht darauf hingewiesen, dass viele der von weißen Feministinnen angesprochenen Probleme gar nicht die ihren sind. Frauen sitzen eben nicht alle im gleichen Boot - darüber zu sprechen ist wichtig.