Stand: 05.02.2019 20:30 Uhr

"Auf einen Mord kommt ein unentdeckter Mord"

Experten schätzen, dass in Deutschland etwa 1.000 Morde im Jahr unerkannt bleiben. Denn es werde viel zu selten obduziert. Professor Marcel Verhoff, Direktor des rechtsmedizinischen Instituts der Universität Frankfurt am Main, spricht mit Panorama über die Dunkelziffer und andere Schwierigkeiten.

Wie oft kommt es vor, dass in der alltäglichen Polizeiarbeit ein Mord übersehen und fälschlicherweise für einen Selbstmord gehalten wird?

Marcel Verhoff vom Rechtsmedizinischen Institut der Uni Frankfurt am Main © NDR Foto: Screenshot
Prof. Marcel Verhoff geht davon aus, dass viele Morde unentdeckt bleiben.

Marcel Verhoff: Das wissen wir naturgemäß natürlich nicht. Wir vermuten da aber schon eine gewisse Dunkelziffer. Grundsätzlich ist es schon mal gut, wenn Dir Polizei überhaupt involviert ist und ermittelt. Dann wird ein Mord seltener übersehen. Bei jedem Suizid wird die Polizei ja in der Regel eingeschaltet. Aber Studien haben gezeigt, dass bei scheinbar normalen Todesfällen generell häufiger Morde unentdeckt bleiben. Man sagt, auf einen Mord kommt ein unentdeckter Mord.

Was sind die häufigsten Gründe dafür, dass so etwas passiert?

Marcel Verhoff: Immer dann, wenn alles völlig klar erscheint, und die Polizei schnell auf einem Gleis ist. Es gibt zum Beispiel einen Abschiedsbrief, die Tür ist von innen verschlossen, alles passt. Dann legt sich die Polizei schnell fest und entscheidet: Tod durch Suizid, keine Obduktion nötig. Dann fehlt hinterher ein wichtiges Beweismittel.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass solche Fälle noch einmal aufgerollt werden?

Marcel Verhoff: Es gibt zwei häufige Gründe: Zum Einen, wenn der Polizei nach der Tat neue Hinweise zur Kenntnis kommen. Das kann zum Beispiel jemand sein, der stolz ist auf seine Tat und rumerzählt, wie er es geschafft hat, es nach Selbstmord aussehen zu lassen.

Sehr häufig sind es bei Suiziden aber auch die Eltern, die Ermittlungen anstoßen. Weil sie es verständlicherweise nicht wahrhaben wollen, dass sich ihr Kind das Leben genommen haben soll. Da beobachten wir aber auch manchmal, dass die Eltern ihre Kinder zum Schluss nicht mehr richtig kannten. Sie sind zwar vom Gegenteil überzeugt, aber es stellt sich dann raus, dass sie Veränderungen, zum Beispiel die Erkrankung an einer Depression, nicht mitbekommen haben. Das kann dann eine sehr komplizierte Situation werden.

Vor welchen Problemen steht man, wenn man als Rechtsmediziner einen zweifelhaften Fall im Nachhinein noch einmal bewerten soll?

Marcel Verhoff: Man hat keine Leiche mehr vor sich. Ganz einfach. Man muss sich auf Fotos vom vermeintlichen Tatort beziehen, man muss fremde Gutachten nutzen. Aber all das kann die Obduktion an einer Leiche natürlich nicht ersetzen.

Kann die Rechtsmedizin hier überhaupt im Nachhinein Sicherheit geben?

Marcel Verhoff: Absolute Sicherheit ist dann natürlich nicht mehr möglich. Und es werden dann möglicherweise immer Zweifel bleiben. Auch bei einer Obduktion gibt es nie hundertprozentige Sicherheit. Aber wir können da natürlich schon vieles eindeutig erkennen. Zum Beispiel gab es in Frankfurt neulich einen Fall, da wurde jemand erdrosselt. Der Täter dachte, er ist schlau und legt das Opfer in eine Schlinge und lässt es nach Selbstmord aussehen. So etwas können wir natürlich erkennen.

Deswegen bin ich auch der Meinung, dass grundsätzlich bei jedem Suizid eine Obduktion durchgeführt werden sollte. Damit steigt die Chance, übersehene Morde aufzuklären deutlich - oder man kann Zweifel am Suizid besser ausräumen.

Dieses Thema im Programm:

Panorama - die Reporter | 05.02.2019 | 21:15 Uhr