Wende im Kampf um Contergan-Renten?
Noch immer versuchen viele Menschen vergeblich, eine Contergan-Rente zu erhalten. Die Conterganstiftung, die darüber entscheidet, hat in den vergangenen Jahren Hunderte Anträge abgelehnt - womöglich zu unrecht, wie Recherchen von NDR, WDR und SZ zeigen.
Manche Probleme sind recht einfach zu lösen - etwa das mit dem Griff am Gatter. Ihr Freund habe ihr eine Verlängerung dran gebaut, sagt Petra Wassmann. So könne sie es besser anfassen. Das Greifen fällt ihr schwer, denn ihr fehlen beide Daumen.
Andere Dinge sind wesentlich komplizierter - etwa ihr Kampf um eine Contergan-Rente. Vor sechs Jahren, 2017, hat sie sie beantragt, 2020 wurde ihr Antrag abgelehnt. Seit März 2021 versucht sie, vor Gericht gegen diese Entscheidung vorzugehen.
Petra Wassmann lebt in der kleinen Gemeinde Sehlde im Süden Niedersachsens. Sie ist 61 Jahre alt, geboren im Frühjahr 1962. Damals, Ende der 1950er-Jahre, Anfang der 1960er, kamen Tausende Babys mit Fehlbildungen zur Welt. Viele starben nach der Geburt, andere litten und leiden unter starken Beeinträchtigungen.
Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan genommen - ohne von den fatalen Folgen zu wissen. Denn schon die Einnahme einer einzigen Tablette konnte zu schweren Fehlbildungen bei heranwachsenden Embryos führen. Contergan kam 1957 als rezeptfreies Medikament auf den Markt, Ende 1961 wurde der Verkauf gestoppt.
Arzt hält Contergan-Schaden für "wahrscheinlich"
Petra Wassmann sagt, sie habe lange Zeit nicht hinterfragt, welche mögliche Ursache es für ihre Fehlbildungen gebe. Neben den fehlenden Daumen ist ihr linker Arm verkürzt, "circa 20 Zentimeter", sagt Wassmann. "Und ich bin halt immer schief. Die Wirbelsäule ist verdreht, die Schulter weiter runter, die linke Schulter ist auch nicht richtig ausgebildet." Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie in der Schwangerschaft Contergan genommen habe.
Erst, als mit der Zeit ihre Schmerzen immer schlimmer wurden, hat Wassmann eine Contergan-Sprechstunde in der Schön-Klinik in Hamburg aufgesucht. Der Arzt dort untersuchte sie umfassend und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass ihre Fehlbildungen wahrscheinlich auf eine Contergan-Einnahme zurückzuführen seien. Er habe ihr geraten, eine Contergan-Rente zu beantragen, sagt Wassmann.
Hoffnung für Contergan-Geschädigte?
Drei Jahre später kam der Bescheid: Abgelehnt. Wassmann legte Widerspruch ein, nahm sich später eine Anwältin und zog vor Gericht. Ihr Verfahren dauert noch immer an, doch ihre Erfolgsaussichten könnten nun gestiegen sein.
Denn womöglich hat die Conterganstiftung bei der Prüfung ihres Falles einen schwerwiegenden Verfahrensfehler begangen - und nicht nur bei ihr, sondern auch bei Hunderten anderen Menschen. Das zeigen Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung".
Verfahrensfehler bei Prüfungen?
Die Anwältin von Petra Wassmann und vielen weiteren mutmaßlichen Contergan-Geschädigten, Karin Buder, wirft der Conterganstiftung vor, gesetzliche Vorschriften bei der Prüfung der Fälle missachtet zu haben. Denn im sogenannten Conterganstiftungsgesetz heißt es, dass eine "aus mindestens fünf Mitgliedern bestehende Kommission" die Anträge prüfe und entscheide, ob ein Contergan-Schadensfall vorliegt. Der Vorsitzende müsse Jurist sein, die anderen Mitglieder medizinische Sachverständige. In Zweifelsfällen sollen sie gutachterliche Stellungnahmen einholen.
Tatsächlich habe aber nur der Jurist allein entschieden, welche Gutachten eingeholt würden, sagt Anwältin Buder. Also eine einzelne Person, die zudem kein Mediziner sei. Und er entscheidet ihrer Darstellung nach am Ende auch alleine, auf Basis der Gutachten, ob es sich um einen Contergan-Schaden handelt. Dieses Vorgehen widerspreche dem Sinn des Gesetzes, dass mindestens fünf Leute gemeinsam beraten und entscheiden - im Zweifel mithilfe von externen Gutachtern.
Die Contergan-Stiftung widerspricht, dass ihr Vorgehen nicht rechtmäßig sei, bestätigt aber auf Anfrage von NDR, WDR und SZ, dass der Vorsitzende allein darüber entscheide, welchen Sachverständigen innerhalb der Medizinischen Kommission die Anträge vorgelegt würden.
Diese prüften dann, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Contergan-Schaden vorliege. Kämen die Sachverständigen nicht zu einem einstimmigen Urteil, sei das Votum der Mehrheit entscheidend, so die Stiftung. Das Verwaltungsgericht Köln habe dieses Vorgehen in der ersten Instanz jüngst noch für korrekt befunden.
Gericht zweifelt an Rechtmäßigkeit
Nun muss die zweite Instanz, das Oberverwaltungsgericht Münster, klären, welche Auffassung zutrifft. Es hegt offenbar Zweifel an der Praxis der Conterganstiftung, wie ein aktueller Beschluss zeigt, der NDR, WDR und SZ vorliegt. Darin heißt es, dass die Prüfungen der Stiftung "nach derzeitigem Sachstand voraussichtlich (...) nicht den gesetzlichen Anforderungen" genügt hätten. Das Gericht will das nun klären.
Petra Wassmanns Anwältin rechnet mit einer Entscheidung bis Ende dieses Jahres. Sollte es ihrer Auffassung folgen, würden wohl zumindest alle laufenden Verfahren neu aufgerollt werden müssen.
Aber es könnte auch bedeuten, dass Hunderte Fälle aus der Vergangenheit neu bearbeitet werden müssten. Betreffen würde das vermutlich sämtliche Anträge seit 2004, damals hatte die Conterganstiftung das Vorgehen bei den Prüfungen entsprechend geändert. Seitdem hat sie mehr als 800 Neuanträge abgelehnt. Hinzu kommen Hunderte abgelehnte Revisionsanträge, also Fälle, bei denen bereits anerkannte Contergan-Geschädigte versucht haben, eine höhere Rente zu bekommen.
Stiftung sieht sich im Recht
Die Conterganstiftung teilte auf Anfrage von NDR, WDR und SZ mit, sie sehe die "langjährig etablierte Arbeitsweise" durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln bestätigt. Sollte die zweite Instanz jedoch "zu dem Ergebnis gelangen, dass die kommissionsinternen Verfahrensabläufe nicht den gesetzlichen Anforderungen (...) genügen, so wird die Conterganstiftung selbstverständlich alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, die das gerichtliche Urteil in der Folge mit sich bringen könnte".
Grünen-Abgeordnete will Stiftungsgesetz überarbeiten
Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Corinna Rüffer, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Conterganstiftung und den Betroffenen. Sie sagt, es gebe schon seit Jahren viele Hinweise darauf, dass das Verfahren nicht richtig ablaufe. Sie wundere sich darüber, "dass man es trotzdem so hat weiterlaufen lassen".
Es gebe aber nun einen Vorstoß aus dem Parlament. Alle demokratischen Parteien seien sich einig, dass dringender Reformbedarf bestehe. Gerade mit Blick auf die Medizinische Kommission seien die Probleme "ganz offensichtlich". Das Gesetz, das die Arbeit der Stiftung regelt, solle deshalb "im Sinne der Betroffenen" überarbeitet werden. Damit wollen die Parlamentarier auch nicht erst auf das Urteil des Gerichts warten.
Petra Wassmann jedenfalls hofft weiter, dass ihr Verfahren irgendwann positiv ausgeht. Eigentlich habe sie immer alles allein machen wollen. Irgendwann sei das aber nicht mehr gegangen. "Und dass man dann so abgeschmettert wird", sagt sie, fühle sich "mies" an.