Sendedatum: 03.09.2019 | 21:15 Uhr
1 | 15 Fiete Schulze wurde 1935 vom Hanseatischen Oberlandesgericht wegen "Hochverrat" zum Tode verurteilt und hingerichtet. Schulze war einer der führenden Köpfe der KPD in Hamburg. Staatsanwalt Wilhelm Stegemann beantragte das Todesurteil. In seinem Plädoyer führte Stegemann aus, das neue deutsche Recht sei nicht objektiv, sondern subjektiv. Stegemann wurde von der Hamburger Justiz danach für die "philosophische Betrachtungsart" gelobt. Die Fotoaufnahmen vor der Hinrichtung hatten u.a. "kriminalbiologische Zwecke". Aus Schädelform und Gesicht glaubte man, Rückschlüsse auf eine verbrecherische, staatsfeindliche Veranlagung ziehen zu können.
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2 | 15 Staatsanwalt Dr. Dr. Wilhelm Stegemann bestand seine juristischen Staatsexamina in den 20er-Jahren mit "voll ausreichend". 1933 trat er in die NSDAP ein und machte in der Hamburger Staatsanwaltschaft Karriere. Er stieg 1937 zum Leiter der Abteilung für Hochverratssachen auf. In den neu entdeckten OLG-Strafakten erscheint Stegemann als unerbittlicher Strafverfolger im Dienst des Nationalsozialismus. Er forderte Todesurteile und Zuchthausstrafen, deckte die Morde der Gestapo. Bestraft wurde er nach dem Krieg nicht, lebte ungestört in Hamburg und Schleswig-Holstein. Historiker Klaus Bästlein bezeichnet Stegemann als "Schreibtischtäter der übelsten Sorte". Literatur gibt es über ihn keine. Stegemann ist ein Hamburger Nazi, über den der Mantel des Vergessens gebreitet wurde.
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3 | 15 Gute Nachrichten für Staatsanwalt Wilhelm Stegemann: Im Oktober 1944 teilt ihm das Reichsjustizministerium mit, dass der Führer ihn zum Oberlandesgerichtsrat befördert habe.
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4 | 15 Nach dem Zusammenbruch 1945 ging Stegemann in den Ruhestand. Er gab "Herzbeschwerden" an. Mit der angebotenen Rente als Staatsanwalt gab er sich nicht zufrieden. Das sei eine "unbillige Härte". Er bestand auf dem Ruhegeld eines Oberlandesgerichtsrats. Rechtsgrundlage dafür: die Beförderung durch Adolf Hitler im Oktober 1944. Stegemann bekam Recht. Auf dem Rentenbescheid 1964 wird er mit "Oberlandesgerichtsrat a.D." angesprochen und bezieht eine Pension von mehr als 1.500 DM monatlich.
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5 | 15 Der 54-jährige Schlachter und Einschaler Theodor Gerdau aus Wandsbek war Mitglied einer Baugewerkschaft. Mit mehreren Kollegen wurde er 1935 von der Gestapo festgenommen und im Hamburger Stadthaus verhört. Ihm sollte mit seinen Kollegen der Prozess vor dem OLG gemacht werden. Aber die Hauptverhandlung erlebte er nicht mehr. In der Todesbescheinigung vom 24. Juli 1936 heißt es: "Der Untersuchungsgefangene Theodor Gerdau wurde heute morgen beim Aufschluss erhängt vorgefunden. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Das Erhängen geschah mittels Hosenträger am Fenster."
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6 | 15 "Schutzhaftbefehl" gegen Amandus Wilken, Mitglied der "Einheitsgewerkschaft Bau". Der Prozess vor dem OLG fand im Oktober 1936 statt. Personen wie dem Festgenommenen wurde von den Richtern vorgeworfen, die Verfassung gewaltsam beseitigen zu wollen. Gemeint war die Weimarer Reichsverfassung. Das war an Zynismus nicht zu überbieten, hatten doch die Nationalsozialisten die Verfassung 1933 mit Gewalt beseitigt. Die Akten zeigen, wie die obersten Hamburger Richter dem Regime mit dieser zynischen Argumentation halfen, gewerkschaftliche, sozialdemokratische und kommunistische Strukuren zu zerschlagen.
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7 | 15 Der Haftbefehl ist von Bruno Streckenbach persönlich unterschrieben. Streckenbach war zu diesem Zeitpunkt Chef der Hamburger Gestapo. In dieser Phase waren seine Opfer hauptsächlich Hamburger Arbeiter.
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8 | 15 Mit Kriegsbeginn 1939 stieg Bruno Streckenbach zum Einsatzgruppenleiter in Polen auf. Beim Überfall auf die Sowjetunion 1941 war er Koordinator aller Einsatzgruppen. Seine Opfer waren dann hauptsächlich die Juden Osteuropas. Streckenbach ist einer der Haupttäter des Holocaust. Er starb 1977 in Hamburg als freier Mann. Er wurde nie bestraft.
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9 | 15 "Hände falten, Köpfchen senken ..... Selbst im Klosett fehlt das Papier Heil mein Füher, wir danken Dir!" Dieses Gedicht mache "selbst vor der Person des Führers nicht halt, indem es die dankbare Gesinnung des Volkes ihm gegenüber verhöhnt und den deutschen Gruß reimlich in die geschmacklosesten Zusammenhänge bringt," schreiben die OLG-Richter in dem 12-seitigen Urteil gegen fünf Angeklagte aus Kiel und Umgebung. "Zersetzende Verse, wie der hier vorliegende, sind ohne weiteres geeignet, bei dem Zuhörer den Willen zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen und ihr Vertrauen zur Führung, ohne deren Unantastbarkeit der Sieg in dem schweren Ringen des deutschen Volkes nicht denkbar ist, zu untergraben." Vier Angeklagte werden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Zu dem Hauptangeklagten, dem Schlosser Karl Linde, wird angemerkt, er sei zur Hauptverhandlung "nicht erschienen". Was mit ihm geschah, geht aus den Akten nicht hervor.
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10 | 15 In den OLG-Akten finden sich auch Todesurteile wie das gegen den Weber Theodor Müller aus Neumünster. Er hatte mit seiner Frau polnische Zwangsarbeiter bewirtet, auch mit selbstgebranntem Alkohol. Diese Solidarität mit den Untermenschen wog in den Augen des Hanseatischen Oberlandesgerichts besonders schwer. Da komme "nur die Todesstrafe in Betracht", heißt es in der Begründung. Müller hatte Glück: Die Henker schafften es nicht mehr, das Todesurteil vor Kriegsende zu vollstrecken. Ein Mitverurteilter starb allerdings an Hunger und Entkräftung wenige Tage nach Kriegsende.
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11 | 15 Die Anklage gegen den Reepschläger Peter Scheller aus Eckernförde. Er soll in einem Gespräch mit einer Kundin bedauert haben, dass das Attentat auf Hitler misslang. Scheller habe "den Sinn des deutschen Schicksalskampfes in keiner Weise verstanden", schreibt die Gestapo Kiel über den Angeklagten. Scheller wurde im März 1945 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber die Vollstreckung der Strafe wurde bis zum 1. Juli 1945 aufgeschoben, weil Scheller, der die Landwirtschaft mit Seilen und Bindegarn belieferte, als unentbehrlich eingestuft wurde. Seine Arbeit sei wichtig für die "Volksernährung", schreibt der Kreisbauernverband Eckernförde. Scheller hatte Glück. Im Juli 1945 regierten die Nazis nicht mehr.
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12 | 15 Bericht der Gestapo Kiel über den Fall Peter Scheller. Der Reepschläger aus Eckernförde wurde von der Papierhändlerin Irmgard Heldt, einer "überzeugten Nationalsozialistin", wie die NSDAP-Kreisleitung schreibt, angezeigt. Es war eine von Hunderttausenden Denunziationen in der Zeit des Nationalsozialismus. "Mehr Deutsche wollten Spitzel der Gestapo sein, als diese gebrauchen konnte," sagt Historiker Klaus Bästlein.
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13 | 15 Adolf Hitler bei der Fahrt durch Eckernförde. "Eine fröhliche Erregung" habe sich der gesamten Einwohnerschaft bemächtigt, schreibt die Eckernförder Zeitung. "Ist es doch das erste Mal, daß der Führer unser Heimatstädtchen berührt." Die Aufnahme zeigt Hitlers Wagen beim Halten vor dem Papierwarengeschäft Heinrich Heldt. Zur Besitzerfamilie gehörte auch Irmgard Heldt, die Peter Scheller denunzierte. Irmgard Heldt war NSDAP-Mitglied seit 1931.
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14 | 15 Vielleicht das bedeutendste Einzeldokument in dem Aktenfund: Staatsanwalt Wilhelm Stegemann war von der Hamburger Gestapo unterrichtet worden, dass die vier des Hochverrats Beschuldigten Kurt Schill, Hans Hornberger, Elisabeth und Gustav Bruhn auf Befehl Himmlers "exekutiert" worden seien. Dies ist die Antwort der Hamburger Staatsanwaltschaft, als "Geheime Reichssache" gekennzeichnet.
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15 | 15 Die Staatsanwaltschaft erklärt, die Hingerichteten würden als Zeugen für andere Verfahren "nicht benötigt". Damit segnet die Justiz den vierfachen Mord ab, schwarz auf weiß. Die Staatsanwaltschaft scheint sich der Brisanz bewusst gewesen zu sein. Das Dokument ist nur mit einem Buchstaben unterschrieben, nicht mit dem vollständigen Namen eines Staatsanwalts. Der Unterzeichnende wollte offenbar vermeiden, dass man ihm später dieses Dokument zuschreiben kann.
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