Störfall in Braunschweig: Kampf um Aufklärung
Julia Wrehde hat ein mulmiges Gefühl, wenn sie an den Schulweg ihrer Tochter denkt. Die Achtjährige läuft zwei Mal am Tag durch das Braunschweiger Wohngebiet Wenden, nur ein paar Minuten zu Fuß. Trotzdem bereitet der Schulweg ihrer Mutter Sorgen. Denn: Nur wenige hundert Meter entfernt arbeiten zwei Unternehmen mit radioaktiven Stoffen - unmittelbar an einem Wohngebiet. "Ich finde, das kann einfach nicht richtig sein", sagt Julia Wrehde.
Auf dem Firmengelände direkt am Wohngebiet arbeiten GE Healthcare und Eckert & Ziegler mit schwach- und mittelradioaktiven Stoffen. Die Unternehmen produzieren wichtige Medizin-Produkte. Zum Beispiel radioaktive Kapseln zur Schilddrüsentherapie und Geräte zur Tumorbestrahlung. Auf dem Gelände lagert aber auch radioaktiver Müll, den Eckert & Ziegler häckselt, verbrennt und presst - ihn fertig macht für die Endlagerung.
Anwohner: "Das ist schon ein bisschen unheimlich"
Das Ehepaar Unger wohnt direkt gegenüber. Aus ihrem Garten blicken die Rentner direkt auf das Eingangstor der Nuklearfirmen. Sie sei schon verunsichert, sagt Hannelore Unger. "Weil man eben nicht weiß, was da genau gelagert wird." Vergangenen Herbst sei die Feuerwehr mit Blaulicht angerückt, erzählt ihr Mann Lutz Unger. "Das ist schon ein bisschen unheimlich und keiner sagt, was da ist."
Im November 2017 war das. Bei GE kommt es zu einem Unfall bei der Produktion von Kapseln. Eine Flasche mit Jod wird von einem Transportwagen gequetscht und öffnet sich. Etwa 40 Milliliter radioaktiv belastete Flüssigkeit wird verschüttet, es muss dekontaminiert werden - der Betrieb wird dafür unterbrochen. Über die Abluft gelangt auch radioaktives Jod an die Umgebung. Der genehmigte Tagesabgabewert wird um 40 Prozent überschritten.
Radioaktiver Zwischenfall nicht von Störfallanalyse gedeckt
Es sind zwar wohl keine gesundheitsgefährdenden Mengen, trotzdem sind einige Anwohner besorgt. Wenn bei einem kleinen Unfall schon die zulässigen Werte überschritten werden, was könnte noch passieren? "Es fällt mir schwer zu glauben, dass uns nichts passiert, wenn es da mal brennt", sagt Julia Wrehde.
Es sind Spekulationen der Anwohner. Denn, was hier passieren kann, ist geheim. Die sogenannten Störfallanalysen hält das Umweltministerium unter Verschluss. Dem NDR liegen diese Dokumente jetzt vor. Es sind Analysen, in denen die Firmen potenzielle Störfälle abschätzen müssen. Die Störfallanalyse von GE zeigt: der Zwischenfall im November war davon nicht gedeckt. "Ein Mangel", sagt Christian Küppers, stellvertretender Vorsitzender der Strahlenschutzkommission, die das Bundesumweltministerium berät. Eine Störfallanalyse müsse abdeckend sein.
Mehr radioaktives Material verschüttet als angenommen
"Es ist eine Menge eines radioaktiven Stoffes gehandhabt worden, die größer gewesen ist, als man in der Störfallanalyse unterstellt hat", so der Physiker vom Öko Institut. Für einen solchen sogenannten "Präparatabsturz" geht die Störfallanalyse davon aus, dass 18,5 Gigabecquerel Jod 131 verschüttet würden. Dieses Szenario aus der Analyse kommt dem tatsächlichen Zwischenfall vom November am nächsten. Allerdings wurden in dem echten Zwischenfall laut offiziellen Zahlen 341 Gigabecquerel Jod verschüttet - also fast 20 Mal so viel, wie die Störfallanalyse annimmt.
GE schreibt dazu auf Panorama 3-Anfrage, es könne "keine Verbindung zur Störfallanalyse gezogen werden". Denn der Unfall im November sei gar kein Störfall gewesen, sondern "anormaler Betriebszustand". Das sei "Wortklauberei" sagt der Nuklear-Experte Küppers. Es sei letztlich "ein Szenario, das durch die Störfallanalyse nicht abgedeckt gewesen ist."
Unterschätzen die Nuklearfirmen ihr Risiko?
Die Mängel werfen Fragen auf. Was ist von Störfallanalysen zu halten, die schon bei einem kleinen Zwischenfall von falschen Annahmen ausgehen? Das schlimmste Szenario in den Störfallanalysen ist, dass ein Flugzeug auf das Firmengelände stürzen könnte - der Flughafen Braunschweig ist nur etwa vier Kilometer entfernt. In einem solchen - unwahrscheinlichen Fall - wären das Firmengelände von GE und Eckert & Ziegler wohl gemeinsam betroffen. Doch selbst für einen solchen Extremfall halten es die Firmen in ihren Analysen nicht für nötig, dass die Wohnbevölkerung evakuiert werden müsste. Mit dem dadurch verschütteten radioaktiven Material würde laut Störfallanalyse der "Eingreifrichtwert (…) zur Evakuierung nicht erreicht".
Feuerwehr hat keinen Evakuierungsplan
Diese Einschätzung hat Folgen: Die Feuerwehr vor Ort hat kein Evakuierungskonzept, weil sie sich auf die Annahmen der Störfallanalyse stützt. Dabei erscheinen diese Einschätzungen zumindest fraglich. Nach dem Unfall von Fukushima hat die Entsorgungskommission des Bundesumweltministerium (ESK) auch die Konditionierungsanlagen von Firma Eckert & Ziegler betrachtet. Man sei zu dem Ergebnis gekommen, sagt der Physiker Christian Küppers, "dass bei sehr schwerwiegenden Einwirkungen aufgrund der Nähe des Wohngebietes eine Evakuierung der Bevölkerung nicht auszuschließen ist."
Die Firma Eckert & Ziegler gibt kein Interview. Schriftlich teilt Eckert & Ziegler mit, man handele "strikt nach Recht und Gesetz" und verweist an das zuständige Niedersächsische Umweltministerium. Minister Olaf Lies hält die Sorgen der Anwohner für unbegründet. Ein Evakuierungsplan sei nicht notwendig. "Maßgabe ist die Störfallanalyse", sagt Lies. Die Analyse der Firma sei präziser als die "oberflächliche" Betrachtung durch die Entsorgungskommission.
Umweltminister Lies: Standort nicht ideal
Lies sieht keinen Grund, an der Störfallanalyse zu zweifeln. Denn: auch bei dem Zwischenfall im November „gab es keine Gefährdung für die Menschen die dort leben“, so Lies. Dass der Standort am Wohngebiet nicht ideal ist, räumt er aber ein. "Wenn man einen neuen Standort sucht, kann ich mir nicht vorstellen, dass man einen solchen Standort wählen würde", so der Minister. "Aber dieser Standort hat sozusagen Rechtskraft und wir können nur prüfen, sind alle Vorgaben eingehalten?"
Tatsächlich werden die Jahresgrenzwerte für Strahlung eingehalten. Bei vielen Anwohnern bleibe dennoch ein mulmiges Gefühl, erzählt Julia Wrehde. Und es bleibe die Frage: "Wie gefährdet bin ich? Wie gefährdet ist mein Kind?"