Razzia bei norddeutschen Firmen: Kampfstoffe für Russland?
Zollfahnder haben mehrere Firmen in Nord- und in Süddeutschland durchsucht. Sie haben den Verdacht, dass Firmen-Verantwortliche über Jahre hinweg ohne Genehmigung hochgiftige Chemikalien nach Russland ausgeführt haben. Mit den fraglichen Substanzen ließen sich auch Chemiewaffen herstellen.
Das Gewerbegebiet der kleinen Gemeinde Lilienthal im niedersächsischen Landkreis Osterholz wirkt ruhig und ziemlich geordnet: Ein Baumarkt, eine große Schlosserei und die Feuerwehr finden sich hier neben einigen anderen mittelständischen Betrieben. Nichts deutet darauf hin, dass die kleine Stadt in den Fokus der großen Weltpolitik rücken könnte.
Doch spätestens seit den Morgenstunden ist genau das der Fall. Der Grund dafür: Auch die Firma Riol Chemie GmbH hat hier ihren Sitz. Sie steht derzeit im Zentrum von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stade, die einem heiklen Verdacht nachgeht: Verantwortliche der Riol Chemie und weiterer Firmen sollen in den vergangenen dreieinhalb Jahren in mehr als 30 Fällen giftige Substanzen und speziellen Laborbedarf nach Russland ausgeführt haben, ohne über die entsprechenden Genehmigungen zu verfügen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte gegenüber NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" Durchsuchungen in insgesamt sieben Firmen und Privaträumen. 50 Einsatzkräfte des Zolls seien wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz im Einsatz.
Grundstoffe für Chemiewaffen - in Kleinstmengen geliefert?
Nach Informationen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" gehen die Ermittler davon aus, dass sich unter den fraglichen Substanzen auch Chemikalien befinden, die als Grundstoffe für die Herstellung von chemischen und biologischen Kampfstoffen - wie etwa Senfgas - genutzt werden können. Diese sollen in Kleinstmengen überwiegend an das Unternehmen Khimmed exportiert worden sein, ein russischer Großhändler für Chemikalien und Labortechnik aus Moskau. Das geht aus Unterlagen hervor, die Reporter von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" einsehen konnten. Khimmed soll russischen Medien zufolge auch Spezial-Labore des russischen Militärs und des russischen Inlands-Nachrichtendienstes FSB beliefern.
Auch Schutzausrüstung nach Russland?
Bei mehreren der Stoffe soll es sich um Chemikalien handeln, die als sogenannte Dual-Use-Güter eingestuft werden. Das heißt: Sie können sowohl zivil, als auch militärisch verwendet werden. Zudem geht die Staatsanwaltschaft dem Verdacht nach, dass die norddeutsche Firma mehrfach Schutzausrüstung nach Russland geliefert hat, die auch für die Produktion von Bio- und Chemie-Waffen verwendet werden kann und deren Ausfuhr deshalb ebenfalls beschränkt ist.
Eine Spur zum Nervengift Nowitschok
Zusätzlich besteht offenbar der Verdacht, dass die Riol Chemie GmbH auch eine Chemikalie ausgeführt haben könnte, die zur Herstellung des Nervengiftes Nowitschok genutzt werden kann. Offenbar legen bei einer zurückliegenden Kontrolle festgestellte Rechnungen diesen Schluss nahe.
Nowitschok ist ein hochwirksames Nervengift, das seit den 1970er-Jahren in einem bis heute geheimen russischen Chemiewaffen-Programm hergestellt wird. Russland bestreitet die Existenz eines solchen Programms. International bekannt wurde Nowitschok im März 2018, als der russische Ex-Agent Sergei Skripal und seine Tochter im britischen Salisbury mit dem Kampfstoff vergiftet wurden - höchstwahrscheinlich von zwei Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Auch beim Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im August 2020 soll Nowitschok eingesetzt worden sein.
Nawalny-Attentat lieferte Hinweise
Im Zuge des Anschlags auf Nawalny geriet die Firma Riol Chemie GmbH bereits in den Fokus westlicher Nachrichtendienste. Die USA verhängten nach dem Attentat Sanktionen gegen russische Staatsfunktionäre und erließen Export-Restriktionen für gut ein Dutzend Unternehmen. Auf der Liste, die von der EU nicht übernommen wurde, findet sich auch die jetzt durchsuchte Riol Chemie. Auch der russische Chemie-Großhändler Khimmed, den Riol Chemie den Ermittlungen zufolge offenbar belieferte, landete auf der Liste.
Deutsche Sicherheitsbehörden verzeichnen seit Jahren verstärkte Bemühungen Russlands, sich weltweit verdeckt Materialien und Grundstoffe zu beschaffen, die auch militärisch verwendet werden können und die aufgrund westlicher Sanktionen nicht mehr ohne weiteres zu bekommen sind. Dazu gehören beispielsweise Antriebssysteme für Raketen, Chip-Technologie und auch chemische Produkte. Ob das auch im Fall der Riol Chemie so ist, muss nun ermittelt werden.
Geschäfte ohne Genehmigung: Deutscher Unternehmer verurteilt
Mitte Juli 2022 hatte das Oberlandesgericht Dresden einen deutschen Unternehmer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Mann soll zwischen 2017 und 2020 in sieben Fällen Laborausrüstung im Wert von rund einer Million Euro ohne Genehmigung nach Russland exportiert haben. Und zwar an ein vom russischen Geheimdienst gelenktes Tarn-Unternehmen, so die Anklage.
Oftmals, so sagen Sicherheitsexperten, würde Russlands Militär einen Bedarf bestimmter Güter melden. Russische Geheimdienste würden dann damit beauftragt, diese zu beschaffen. Dies geschehe teilweise über komplexe Firmen-Netzwerke, Strohleute und Tarnfirmen, aber auch über direkte Ansprache und das Anwerben von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten. Aufgrund des verschärften Konflikts mit Russland und der erweiterten Sanktionen, so heißt es in Sicherheitskreisen, sei davon auszugehen, dass die verdeckten russischen Beschaffungsbemühungen in Zukunft zunehmen werden.
Zoll wurde auf Riol Chemie aufmerksam
Dem deutschen Zoll fiel die Riol Chemie GmbH im Jahr 2021 bei einer Kontrolle auf. Gegen die norddeutsche Firma wurde bereits in der Vergangenheit wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz ermittelt. Unmittelbar nachdem Riol Chemie und die weiteren deutschen Firmen auf der US-Sanktionsliste landeten, gründeten ehemalige Mitarbeiter eine weitere Firma, die in Konstanz ansässige R.R. Rhein Reserve GmbH. Die Staatsanwaltschaft Stade geht dem Verdacht nach, ob diese Firma dazu genutzt werden sollte, weitere illegale Exporte nach Russland zu verschleiern.
Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass die Riol Chemie zudem gegenüber dem Zoll vorgetäuscht haben könnte, ausfuhrbeschränkte Laborgeräte nach Litauen zu verschicken. Hierfür soll die Firma mit einem Bremer Logistik-Unternehmen zusammengearbeitet haben. Tatsächlich aber sollen die Geräte für Russland bestimmt gewesen sein. In vom Verfassungsschutz abgehörten Telefonaten, sollen sich Firmen-Mitarbeiter darüber unterhalten haben, dass man künftige Exporte nach Russland entsprechend verschleiern könnte.
Einschlägige Verbindungen nach Russland
Die deutschen Firmen und ihre Eigner haben teilweise persönliche Verbindungen nach Russland und zu einschlägigen Firmen. Eine Auswertung russischer Handelsregister-Daten zeigt, dass ein ehemaliger Geschäftsführer der Riol Chemie GmbH zuvor Miteigentümer einer Khimmed-Tochter war, an die fragliche Substanzen geliefert worden sein sollen. Auch ein aktiver Geschäftsführer der Riol Chemie GmbH war, den Daten zufolge, zuvor Direktor der gleichen Khimmed-Tochter. Der Verfassungsschutz glaubt, dass die deutschen Firmen aus Russland gelenkt werden.
Neben den Geschäftsräumen der Riol Chemie und der R.R. Rhein Reserve wurden heute auch mehrere Privatwohnungen, eine Steuerkanzlei sowie der Sitz eines Bremer Logistik-Unternehmens durchsucht. Auf Nachfrage wollten sich bisher weder Verantwortliche von Riol Chemie, R.R. Rhein Reserve noch von der russischen Khimmed zu den Vorwürfen äußern.
Nach den bisherigen Ermittlungen glauben die Hamburger Zollfahnder, dass die Riol Chemie GmbH relativ kleine Mengen der Chemikalien nach Russland geliefert hat. Teilweise soll es sich jeweils nur um wenige Gramm oder sogar Milligramm gehandelt haben. Die fraglichen Stoffe könnten auch für legale Zwecke exportiert worden sein, etwa als Vergleichsgrößen für die Lebensmittel- und Wasser-Analytik.
Der Experte für chemische und biologische Waffen, Mirko Himmel von der Universität Hamburg, weist gegenüber Panorama 3 allerdings darauf hin, dass auch Kleinstmengen gefährlicher Stoffe für Waffenprogramme eine wichtige Rolle spielen könnten: "Auch in einem Labor, das Chemie-Kampfstoffe herstellt, braucht man eine Qualitätskontrolle, eine Analytik, die Referenzsubstanzen benötigt." Mit den Referenzsubstanzen könnte man die Qualität der eigenen Produktion überprüfen.