Mediziner warnen: Viele Morde unentdeckt
Es ist eines dieser Verbrechen, die fast nie aufgedeckt worden wären: Eine Rentnerin aus Anklam wird tot in ihrer Wohnung gefunden, der Hausarzt stellt einen natürlichen Tod fest. Nur weil die Tote eingeäschert werden soll, gibt es noch eine zweite Leichenschau im Krematorium von Neubrandenburg. Hier fallen der Rechtsmedizinerin plötzlich Würgemale am Hals der Toten auf - die Rentnerin wurde umgebracht! Im Laufe des Prozesses gesteht der Angeklagte und das Landgericht Stralsund verurteilt ihn zu elf Jahren Haft wegen Totschlags.
Einer der wenigen Fälle, in denen ein zunächst unentdecktes Verbrechen doch noch ans Licht kommt. Rechtsmediziner in Deutschland bemängeln seit Jahrzehnten, dass das deutsche Leichenschau-System viele Tötungen nicht erkennt - etwa die Hälfte aller Morde bleibt unentdeckt, vermuten sie.
"Deutliche Verbesserung"?
So war es auch zunächst bei der wohl größten Mordserie der Nachkriegszeit in Deutschland, den Taten des Krankenpflegers Niels Högel in Oldenburg und Delmenhorst. Ein beispielloses Verbrechen, aus dem auch die Politiker in Niedersachsen ihre Lehren ziehen wollten. Sie versprachen schnell bessere Gesetze. Das war Anfang 2015. Jetzt, zweieinhalb Jahre später, tritt das neue Bestattungsgesetz in Kraft. Die Verantwortlichen sind zufrieden mit dem Ergebnis: "Von dem Gesetz verspreche ich mir eine deutliche Verbesserung der Patientensicherheit", so die zuständige Sozialministerin Carola Reimann.
Christian Marbach verfolgt die politische Debatte seit Jahren - aus einem traurigen persönlichen Anlass. Sein Großvater war ein Opfer von Niels Högel. Seitdem Marbach das weiß, hat er sich tief eingearbeitet in das Thema. Er ist enttäuscht von dem neuen Gesetz: "So lange wurde uns versprochen, dass es Verbesserungen geben würde. Und wenn ich sehe, was da jetzt tatsächlich beschlossen wurde, ist das ein schlechter Witz." Tatsächlich ändert sich mit dem neuen Gesetz nicht viel - es verschärft vor allem die sogenannten Meldepflichten. Das heißt, dass neue Kategorien geschaffen werden, nach denen ein Arzt Auffälligkeiten an einer Leiche der Polizei oder der Staatsanwaltschaft melden muss. Zum Beispiel soll neuerdings immer dann die Polizei alarmiert werden, wenn jemand während einer Operation oder in den 24 Stunden danach stirbt.
Mehr Obduktionen gefordert
Diese Änderungen gehen vielen Kritikern, vor allem Rechtsmedizinern, nicht weit genug. Prof. Michael Klintschar leitet die Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule in Hannover und findet, dass das Gesetz zwar gute Schritte in die richtige Richtung gehe. Wenn man allerdings wirklich mehr unentdeckte Tötungen erkennen wolle, "dann gibt es nur einen Weg: mehr Obduktionen." In Deutschland wird im internationalen Vergleich sehr wenig obduziert, die Quote liegt bei rund zwei Prozent. Klintschar schlägt vor, 15 Prozent aller Toten im Krankenhaus zu obduzieren, nach dem Zufallsprinzip - "das könnte mögliche Täter abschrecken." Das niedersächsische Sozialministerium entgegnet, das neue Gesetz werde in Zukunft sehr wohl für mehr Obduktionen sorgen. Ob das wirklich so ist, wird sich erst noch zeigen müssen. Von einem Zufallsprinzip, wie es Klintschar vorschlägt, steht nichts in dem Gesetz.
Pilotprojekt in Delmenhorst
Dass die Änderungen am eigentlichen Problem vorbeigehen, das glaubt der Rechtsmediziner Prof. Michael Birkholz. Er leitet im Josef-Hospital Delmenhorst - wo damals Niels Högel mordete -, ein deutschlandweit einzigartiges Pilotprojekt. Auf Kosten des Krankenhauses wird dort jeder Todesfall nach dem Vier-Augen-Prinzip ein zweites Mal untersucht. Mit dem Pilotprojekt konnte die Quote derjenigen Todesfälle, die der Polizei gemeldet werden, um die Hälfte auf 20 Prozent gesteigert werden.
Birkholz ist sicher, dass nur solche externen Prüfungen dafür sorgen können, mehr unentdeckte Tötungen zu erkennen. "Wir haben hier sicher noch nicht den Stein der Weisen, aber wir gehen die ersten Schritte." Dass die Erfahrungen aus seinem Pilotprojekt nicht in das neue Gesetz eingeflossen sind, versteht er nicht. "Dass nach den Morden von Niels Högel noch einmal so ein Gesetz vorgelegt wird, das die Sicherheit der Patienten kein Stück verbessert, das ist unglaublich." Das Sozialministerium entgegnet, das neue Bestattungsgesetz verbiete solche Projekte wie das in Delmenhorst nicht - für eine flächendeckende Einführung fehle allerdings der "Nachweis der Wirksamkeit."