Wie Krankenkassen versuchen, Versicherte aus dem Job zu drängen
Am Ende traute sich Birgit W. schon gar nicht mehr ans Telefon. So groß war ihre Angst vor ihrer eigenen Krankenkasse. Die habe sie krank gemacht, noch kränker als sie ohnehin schon war, sagt sie. Im Mai vergangenen Jahres erlitt Birgit W. einen Zusammenbruch. Ihre Ärztin diagnostiziert eine akute Depression und schreibt sie krank. Birgit W. schickt ihre Krankmeldung wie vorgeschrieben an ihre Versicherung, die Techniker Krankenkasse. Nach nur drei Wochen klingelt bei ihr das Telefon: eine Sachbearbeiterin der Krankenversicherung meldet sich.
"Sie hat mich unter Druck gesetzt"
Das Gespräch habe ganz harmlos begonnen, erinnert sich die 61-Jährige. Die Sachbearbeiterin habe sich nach ihr erkundigt, habe wissen wollen, wie es ihr ginge. Sie ist vollkommen arglos, als die Mitarbeiterin der Kasse weiter nachfragt, nach den Gründen ihrer Depression. Voller Vertrauen berichtet sie von privaten Problemen und Problemen bei der Arbeit. Kaum habe sie das erzählt, habe sich das Gespräch gewendet, sagt Birgit W.: "Man kann ja auch vielleicht den Job kündigen", habe die Sachbearbeiterin gesagt, und nicht lockergelassen. Auch früher in Rente zu gehen sei in ihrem Alter eine Option. Birgit W. fühlt sich ausgehorcht und regelrecht drangsaliert. "Sie hat mich unter Druck gesetzt, in dem Gespräch wurde es immer mehr", sagt sie.
Wollte Krankenkasse Geld sparen?
Schon direkt nach diesem Anruf ist sie überzeugt, die Krankenkasse wollte sie rausdrängen aus dem Krankengeld, das die Krankenversicherung nach der sechswöchigen Lohnfortzahlung zahlen muss. Würde sie kündigen, wäre sie arbeitslos. Dann müsste das Jobcenter übernehmen und Arbeitslosengeld bezahlen. Die Krankenkasse wäre fein raus. Und tatsächlich erhält sie kurz nach dem Anruf noch einmal alles schriftlich von der Techniker Krankenkasse. In einem Schreiben teilt die ihr mit, ihre Arbeitsunfähigkeit resultiere aus einem Konflikt mit ihrem Arbeitgeber, das meint die Sachbearbeiterin aufgrund des kurzen Telefonates zu wissen. Aus Sicht der Krankenkasse sei damit ihre Arbeitsunfähigkeit "nicht mehr ausreichend begründet". Sie setzt ein Ultimatum. Wenn Birgit W. ihr Arbeitsverhältnis nicht innerhalb von gut zwei Wochen gekündigt habe, "werden wir Ihre Krankengeldzahlung mit dem 31. Juli 2019 einstellen."
Beschwerden häufen sich
In Beratungsstellen wie bei der Hamburger Verbraucherzentrale häufen sich inzwischen Beschwerden über zahlreiche Krankenkassen. Die fragten ihre Versicherten regelrecht aus. Dabei dürften Krankenkassen solch intime medizinische Fragen oder Erkundigungen nach der persönlichen Lebenssituation gar nicht stellen, sagt Jochen Sunken. "Wenn die Krankenkasse begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten hat, kann sie den Medizinischen Dienst der Krankenkassen beauftragen, das für sie zu überprüfen." Sie selber dürfe es nicht.
Dennoch versuchten Kassen es aber dennoch immer wieder und das habe offenbar System: "Sie suchen in diesen Telefonaten nach Ansatzpunkten, wie man diese Leute möglichst schnell wieder aus dem Krankengeldbezug rausbekommen kann", sagt Sunken. Sei es, dass sie möglichst schnell wieder arbeiten gingen, sei es, dass sie ihren Job kündigten und dadurch in den Arbeitslosengeldbezug kommen oder aber in die Rente gingen.
Datenschützer fordert Bußgelder als Druckmittel
Auch bei Ulrich Kelber, dem Bundesbeauftragten für Datenschutz, laufen vermehrt solche Beschwerdefälle auf. Er will nun aktiv werden. Krankenkassen sollten Versicherte nicht länger aushorchen und damit unter Druck setzen können. Bestehende Reglungen der Kassen müssten deshalb klarer formuliert werden. "Aus dem Grund sind wir auch mit dem Gesundheitsministerium im gemeinsamen Gespräch die entsprechenden Leitlinien noch einmal zu verschärfen, damit die Krankenkassen ihre Grenzen klar erkennen".
Außerdem werde er nun gegen einzelne Kassen, die mit eklatanten Verstößen aufgefallen seien, Sanktionsmaßnahmen einleiten. Dabei könne er etwa Anordnungen erlassen und bestimmte Praktiken untersagen. Und muss hoffen, dass sich die Kassen daran halten. Bußgelder kann er gegen gesetzliche Krankenkassen jedoch nicht verhängen. Genau das sei aber langfristig nötig, so Kelber. Erst wenn Bußgelder drohten, würden Kassen die Gefahr eines Bußgeldes abwägen, gegen mögliche finanzielle Vorteile solcher Datenschutzverstöße.
Therapeutin: Fälle öffentlich machen
Birgit W. hat trotz des enormen Druckes, den ihre Kasse aufgebaut hat, nicht gekündigt. Mit Hilfe ihrer Therapeutin konnte sie sich gegen ihre Krankenkasse zur Wehr setzen. Aber Birgit W. weiß nicht, was sie getan hätte, wenn sie nicht Menschen um sich gehabt hätte, die sie unterstützten. "Ich weiß nicht, ob ich gekündigt hätte. Ich hatte Angst, es nicht zu tun." Nach einem Schreiben der Therapeutin an den Versichertenvertreter im Verwaltungsrat der Techniker Krankenkasse zog die Kasse alles zurück. Doch das reiche nicht, findet Psychotherapeutin Sigrid Pape. Der Gesundheitszustand ihrer Patientin habe sich durch das Verhalten der Kasse massiv verschlechtert. Außerdem weiß sie von Kolleginnen und Kollegen von ähnlichen Fällen. Es sei wichtig, das öffentlich zu machen, damit dem Einhalt geboten werde, "damit nicht noch andere Patienten in so eine Krisensituation geraten." Denn solche Anrufe bei psychisch erkrankten Menschen, die dem oft hilflos ausgeliefert sind, seien gefährlich. Zwar sei nicht jeder Patient suizidal, "aber es geht hier um die Existenz". Ihre Patientin habe einen Ehemann, so Pape. "Aber es gibt auch Menschen, die alleinstehend sind. Und wenn die mit so etwas konfrontiert werden, dann können die unter Umständen zu einer Kurzschlusshandlung kommen."
Krankenkasse "bedauert es sehr"
Mehrfach hat Panorama 3 bei die Techniker Krankenkasse (TK) nachgehakt. Zunächst hieß es, Versicherte würden nicht zur Kündigung gedrängt, sondern bei solchen Anrufen lediglich informiert. Die Kasse wolle die Versicherten damit "bestmöglich im Prozess des Gesundwerdens unterstützen". Erst als Panorama 3 die TK mit dem konkreten Fall von Birgit W. und dem eigenen Schreiben konfrontiert, schreibt die Kasse: "Wir bedauern es sehr", dass der Birgit W. "eine Kündigung ihres Arbeitsplatzes nahegelegt wurde." Man habe sich dafür bei ihr entschuldigt. Die Krankenkasse sah am Ende offenbar doch Handlungsbedarf. Im Zuge der Aufarbeitung des Falls habe man die Mitarbeiter in den Fachzentren "auf die geltende Rechtslage hingewiesen."