Ist die Polizei im Umgang mit psychisch Kranken ausreichend vorbereitet?
Mohamed Idrissi starb im Juni 2020 in Bremen bei einem Polizeieinsatz. Er litt unter paranoider Schizophrenie. Hätte sein Tod verhindert werden können? Die Ermittlungen laufen noch.
Am 18. Juni 2020 steht Mohamed Idrissi in einer Ecke eines Innenhofes in Bremen. Der 54-Jährige scheint verwirrt zu sein, er redet zusammenhangslose Sätze. In seiner Hand hält er einen länglichen, schwarzen Gegenstand. Er ist umringt von vier jungen Polizist:innen, die laut auf ihn einreden. Nachbarn filmen all das mit dem Handy. Auch die beiden Schüsse, durch die Mohamed Idrissi stirbt.
Idrissi kommt in den 1990er Jahren aus Marokko nach Bremen. Der gelernte Schweißer heiratet und bekommt eine Tochter. Die Ehe zerbricht und auch gesundheitlich geht es Idrissi immer schlechter. Die Diagnose: Paranoide Schizophrenie. Das bedeutet, dass das Denken und Wahrnehmen gestört ist. Grenzen verschwimmen. Manche bekommen Halluzinationen, andere hören Stimmen. Idrissi soll einen Waschzwang gehabt haben, eine Auswirkung seiner Psychose.
Psychologisches Fachpersonal kommt zu spät
Regelmäßig soll er seine Wohnung unter Wasser gesetzt haben. Auf Nachfrage erklärt die Wohnungsbaugenossenschaft: Das Wasser sei vom Erdgeschoss bis in den Keller gelaufen. Zwei Mitarbeiter kommen und wollen den Schaden begutachten. Sie bringen die Polizei mit. Es soll geklärt werden, ob Mohamed Idrissi eine Gefahr für sich oder andere ist und in die Psychiatrie gebracht werden muss. Denn das Wasser soll auch die elektronische Hausverteilung durchfeuchtet haben. Dass Mohamed Idrissi krank ist, weiß eigentlich auch die Polizei. Psychologisches Fachpersonal ist unterwegs - doch als das eintrifft, ist Idrissi tot.
Gegenstand wirkt wie ein Messer
Das Video aus dem Innenhof dokumentiert den tragischen Verlauf: Inzwischen ist Idrissi nicht mehr in seiner Wohnung, sondern im Innenhof der Wohnanlage. Idrissi hat einen schwarzen Gegenstand in seiner Hand, zieht daraus ein Messer. Auf die Aufforderung, dieses fallen zu lassen, reagiert er nicht. Die Beamt:innen entscheiden sich schließlich, Pfefferspray einzusetzen. Daraufhin läuft Idrissi los. Dann wird er erschossen.
Kriminologe: Pfefferspray-Einsatz Grund für Eskalation
Der Kriminologe Prof. Thomas Feltes beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit solchen Polizeieinsätzen. Bei dem Fall um Mohamed Idrissi ist er von den Hinterbliebenen als Gutachter beauftragt worden. Er sagt, der Einsatz des Pfeffersprays sei der Grund für die Eskalation gewesen: "Pfefferspray-Einsatz ist bei psychisch gestörten Menschen immer ein Trigger, ein Auslöser. Sie nehmen das unter Umständen gar nicht wahr, dass das Pfefferspray ist. Sie nehmen nur den Schmerz wahr, fühlen sich dadurch angegriffen und gehen dann in eine Verteidigungshaltung hinein. Und hier eben glaubt er, sich mit dem Messer quasi gegen den Angriff verteidigen zu müssen", so Feltes.
Dieser Fall verdeutliche, dass Polizistinnen und Polizisten zu wenig im Umgang mit psychisch kranken Menschen in Ausnahmesituationen geschult werden.
15 Menschen starben durch Polizeischüsse seit 2017
Seit 2017 sind in Norddeutschland 15 Menschen durch Polizeischüsse getötet worden. Experten schätzen, dass elf von ihnen psychisch gestört waren. Befragungen von Polizeibeamt:innen zeigen, dass diese in ihrer täglichen Arbeit vermehrt mit psychischen Erkrankungen konfrontiert sind. Und viele wünschen sich, besser vorbereitet zu werden.
In Hamburg setzt man bei der Polizeiausbildung schon auf die Begegnung mit psychisch Beeinträchtigten - mit einem trialogischen Ansatz: Menschen, die unter Psychosen oder andere psychische Erkrankungen hatten, berichten angehenden Polizei-Beamt:innen von ihrer Erkrankung und ihren Erfahrungen mit der Polizei. Auch Angehörige kommen zu Wort.
Seminare sollen Polizeischüler besser vorbereiten
"Wenn ich in einer Psychose steckte, dann ist laute, aggressive Ansprache durch die Polizei genau das Falsche", erzählt ein Teilnehmer. Ruhiges, besonnenes Vorgehen habe ihm geholfen. Eine Polizeischülerin merkt an, dass "wenn eine Person mit einem Messer auf uns zugerannt kommt und wir wissen nicht, was ist der Hintergrund, dann haben wir einfach oft keine andere Wahl, als unsere Waffe einzusetzen." Im Seminar aber geht es um "das Davor" also darum, wie es gelingen kann, eine Situation erst gar nicht eskalieren zu lassen.
Ein Polizist spricht über seinen tödlichen Schuss
Denn dann gibt es kaum eine Möglichkeit, wieder Ruhe in das Geschehen zu bringen - so hat es auch ein Polizeibeamter aus Norddeutschland erlebt, der unerkannt bleiben möchte. Zwei Mal habe er während eines Einsatzes mit einer psychisch kranken Person schießen müssen, das eine Mal endet es tödlich. In beiden Fällen seien die erkrankten Personen nicht zugänglich gewesen, hätten nicht auf eine ruhige Ansprache reagiert, sondern seien auf Angriff gegangen.
Er und seine Kolleg:innen hatten aus ihrer Sicht keine Wahl: sie mussten schießen. Er geht davon aus, dass polizeiliche Einsätze mit psychisch auffälligen Menschen zunehmen werden - genau deshalb findet er es wichtig, dass sich die polizeiliche Ausbildung zukünftig noch stärker darauf konzentriert.
Die Ermittlungen im Fall Mohamed Idrissi laufen noch. Die Angehörigen von Idrissi sind sich sicher, dass sein Tod hätte verhindert werden können.