Fahrerhaftung: Raser ohne Strafe
Vor einem Einfamilienhaus im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg hält ein Polizeiwagen. Hauptkommissarin Bianca Kohnke und ihre Kollegin Jankowiak steigen zügig aus, in der Hand ein Foto. Als Sie an der Haustür klingeln, öffnet eine Frau, noch im Bademantel. "Polizei Bad Segeberg, guten Morgen. Kennen Sie die Person auf diesem Foto?"
Nein, es geht hier nicht um eine Mordermittlung im Tatort, sondern um ein Verwarngeld in Höhe von 15 Euro wegen zu schnellen Fahrens. In Deutschland gilt bei Geschwindigkeitsverstößen die strenge Fahrerhaftung: Ist der Halter nicht selbst gefahren, muss er keine Angaben machen, wer mit seinem Auto gerast ist. Den tatsächlichen Fahrer muss die Polizei dann über mühselige Hausbesuchen ermitteln. "Die Kernaufgaben der Polizei sind primär Gefahrenabwehr. Dazu gehört das hier sicher nicht", seufzt Polizistin Kohnke. Sie und ihre Kollegen sind allein in Bad Segeberg letztes Jahr weit über tausend Mal zu Fahrerermittlungen ausgerückt. Hochgerechnet sind bundesweit etwa 2.000 Polizisten mit nichts anderem beschäftigt.
"Der Ehrliche ist der Dumme"
All das kostet Zeit und vor allem Steuergeld. Marion Linkener macht das besonders wütend. Seit 15 Jahren ist sie Sachbearbeiterin in der Bußgeldstelle Schwerin. Sie hält die Verfolgung von Rasern für enorm wichtig, schließlich gehe es um die Verkehrssicherheit. Doch die Verjährungsfrist ist kurz: Schaffen es die Behörden nicht, den Fahrer nach drei Monaten zu ermitteln, landen die Verfahren in der Reißtonne. Und so mussten allein in Schwerin letztes Jahr über 6.000 Verfahren eingestellt werden. Verlust für die Kommune: rund 360.000 Euro. "Die, die sich durchschludern und nicht melden, die kommen davon, und der Ehrliche ist der Dumme", ärgert sich Linkener. Theoretisch droht notorischen Temposündern die Auferlegung eines Fahrtenbuchs, wie man es bei Firmenwagen kennt. Doch eine Kontrolle ist aufwendig, daher machen die Kommunen nur in seltenen Fällen von diesem Mittel Gebrauch.
Gesetzesänderung gefordert
Verkehrsexperten fordern schon lange eine Gesetzesänderung. Deutschland ist eines der wenigen EU-Länder, in denen die alleinige Fahrerhaftung gilt. Anderswo können Halter bestraft werden, wenn mit ihrem Auto gerast wurde und sie den Übeltäter nicht nennen wollen. Der Vorschlag der Experten: Zumindest die Verfahrenskosten könnte man dem Halter überlassen. Bei Parkverstößen gibt es die so genannte "Kostentragungspflicht" schon lange. Sie ließe sich auf den fließenden Verkehr ausdehnen. Schon vor fünf Jahren hat der Verkehrsgerichtstag das Verkehrsministerium aufgefordert, den Handlungsbedarf zu prüfen: Wie viele Raserverfahren in Deutschland wurden eingestellt, weil der Fahrer nicht zu ermitteln war? Lohnt sich eine Gesetzesänderung? Passiert ist nicht viel.
Mautminister Alexander Dobrindt (CSU) will von einer Gesetzesänderung nichts wissen. Auf Anfrage verweist er auf eine kürzlich veröffentlichte Studie. Daraus gehe hervor, dass bundesweit nur etwa 160.000 Verfahren eingestellt werden, weil der Fahrer nicht zu ermitteln war. Zu wenig, meint der Minister: "Es gibt keine Notwendigkeit einer Neuregelung. Es bleibt alles beim Alten, für Deutschlands Autofahrer ändert sich nichts."
Mindestens eine Millionen Verfahren eingestellt
Diese Schlussfolgerung überrascht einen ganz besonders: Prof. Dieter Müller. Er ist einer der renommiertesten Wissenschaftler in der Verkehrsforschung - und er ist der Autor der zitierten Studie: "Es ist ein verkehrspolitischer Schnellschuss wenn man keinen Handlungsbedarf sieht. Die Zahlen, die der Minister nutzt, sind so nicht korrekt", meint Müller. "Es sind in Deutschland mindestens eine Million Verfahren, die eingestellt werden." Problematisch sei, dass das Verkehrsministerium ihn beauftragt habe, nur einen ausgewählten Teil der Bußgeldbehörden zu untersuchen. Dass die Ergebnisse folglich keine Aussagen über ganz Deutschland erlauben, ist in der Studie explizit vermerkt. Nun tobt der Wissenschaftler: "Das Ministerium hat die Studie so in Auftrag gegeben, dass eine geringe Zahl an Verfahren rauskommen musste. Man möchte wohl kein neues politisches Thema aufmachen."
Keine neue politische Baustelle
Panorama 3 konfrontiert den Minister mit den Vorwürfen. Doch Dobrindt weicht aus: "Die Studie kommt ja trotzdem zu Ergebnissen, ob repräsentativ oder nicht. Sie zeigt Möglichkeiten auf, danach kann man handeln. Natürlich immer mit der Einschränkung auf was man sich beruft. Wir gehen da ganz transparent vor, aber politische Entscheidungen werden dennoch dann getroffen." Ein bereits von der Maut gebeutelter Verkehrsminister scheint nicht besonders an einer neuen politischen Baustelle interessiert zu sein.
Verkehrsexperte Müller hat dafür kein Verständnis: "In jedem eingestellten Verfahren zahlt der Steuerzahler. Er zahlt für Täter, die lügen. Und normalerweise ist das so zu interpretieren, dass der Minister diese Lügner in Schutz nimmt."