Der dramatische Zustand norddeutscher Schulen
Seit vier Jahren ist der Pausenhof der Theodor-Heuss-Schule in Pinneberg gesperrt, in der Mitte liegt ein Haufen Bauschutt, Gras ist darauf gewachsen. "Wir sind eine Dauerbaustelle", sagt Schulleiter Matthias Beimel trocken. "Eigentlich sollte nur die Fassade saniert werden. Das ist seit acht Jahren geplant, und wie Sie sehen, ist es bis heute noch nicht fertig. Warum eigentlich, das weiß keiner so genau."
Im Innern sieht es nicht besser aus - einige Räume sind gesperrt. In ein Klassenzimmer hatte es hineingeregnet. Zwar wurde das Dach inzwischen repariert, doch für die Sanierung der Decke fehle das Geld, so kann Schulleiter Beimel den Raum auch weiterhin nicht nutzen.
Bundesweit fehlen 32 Milliarden Euro
Die Sanierung maroder Schulen ist für viele Kommunen in Norddeutschland eine immense Herausforderung. 6.651 Schulen gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Norden. Viele Gebäude stammen aus den 60er-und 70er-Jahren. Die Fenster zugig, die Toiletten eklig, dazu kommen neue Anforderungen durch den Ausbau des Ganztagsunterrichts und der Inklusion. Nach einer Schätzung des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIfU) von 2014 fehlen für Sanierung und Ausbau der Schulen bundesweit rund 32 Milliarden Euro. Das ist möglicherweise noch untertrieben, denn Recherchen von Panorama 3 zeigen: Allein in Norddeutschland fehlen rund zehn Milliarden Euro. Dabei sind die Ausgaben für öffentliche Schulen in den Bundesländern im Norden in den letzten zwanzig Jahren deutlich angestiegen.
Wie steht es um die Schulen in Norddeutschland? Wie viel Geld steht für die Gebäude zur Verfügung - und wie viel fehlt? Das wollten wir von allen 75 Landkreisen und kreisfreien Städten im Norden wissen. Denn genaue Zahlen hierzu gibt es weder bei den Bildungsministerien der Länder noch im Statistischen Bundesamt. Niemand weiß genau, wie es um den Zustand der Schulgebäude in Deutschland bestellt ist. Der Grund: Die Verantwortung dafür liegt bei den Kreisen und Kommunen. Sie entscheiden eigenverantwortlich von Jahr zu Jahr, wie viel Geld sie in Baumaßnahmen an Schulen investieren.
Entsprechend groß, das zeigen die Antworten auf unsere Anfrage, sind die regionalen Unterschiede: So lagen die Ausgaben pro Schüler im Jahr 2015 im Landkreis Celle bei 1.600 Euro, in Dithmarschen waren es dagegen nur 88 Euro pro Kopf.
Große Unterschiede gibt es auch bei dem von den Kreisen und Kommunen angegebenen Sanierungsstau: So rechnet man in den Kreisen Wittmund (NDS) und Plön (S-H) für die nächsten Jahre nur mit geringen Sanierungskosten in Höhe von etwa 5,5 Millionen Euro. Der Kreis Vorpommern-Rügen (M-V) rechnet mit 50 Millionen, der Kreis Leer (NDS) benötigt rund 110 Millionen Euro.
Da die Verantwortung für die Grundschulen und in vielen Fällen auch für die weiterführenden Schulen bei den Kommunen liegt, klaffen auch hier Millionenlücken: In Hannover sind es 740 Millionen Euro, Lübeck rechnet mit 190 Millionen, Wolfsburg mit 150 Millionen, Rostock mit 64 Millionen Euro.
Rechnet man den von den Landkreisen angegebenen Sanierungsbedarf zusammen, so ergibt sich allein aus den Antworten von 29 Landkreisen, 10 kreisfreien Städten und der Stadt Hamburg eine Summe von rund 4,6 Milliarden Euro. Hochgerechnet auf ganz Norddeutschland dürfte der Sanierungsstau bei annähernd zehn Milliarden Euro liegen. Eine gewaltige Lücke, die von den Kommunen allein kaum zu schließen ist.
Kommunen fühlen sich alleingelassen
Der gesperrte Schulhof, Lärm durch Bauarbeiten - die Schüler der Theodor-Heuss-Schule in Pinneberg weigern sich, das als Normalität zu akzeptieren. "Klar, wenn Bauarbeiter auf dem Dach rumlaufen, ist das interessant, man guckt raus, aber man ist dann auch einfach abgelenkt. Und ich denke das ist auch für die Lehrer nervig", sagt Schülerin Anneke Sellmann. "An anderen Schulen haben die Schüler ganz andere Möglichkeiten, und wir haben später vielleicht schlechtere Chancen."
Pinnebergs Bürgermeisterin Urte Steinberg leugnet die Probleme nicht: "Wir haben schon viel saniert, haben aber noch ungefähr 45 Millionen Euro vor uns. Das betrifft nahezu alle Schulen Pinnebergs. Wir werden nicht alles gleichzeitig sanieren können."
"Wir haben hier eine Mängelverwaltung", beklagt auch Andreas Tensfeld. Als Leiter des Gebäudemanagements plant er die Baumaßnahmen an den öffentlichen Schulen im niedersächsischen Delmenhorst. Und muss immer wieder abwägen: Gibt er das Geld für neue Fenster aus, baut er eine Rampe für Rollstuhlfahrer, oder saniert die Toiletten? "Rechnet man all das zusammen, ist ein Neubau häufig günstiger als viele teure Einzelmaßnahmen. Doch dafür bräuchte es eine langfristige Planung, und die fehlt", so Tensfeld. "Politiker denken in Legislaturperioden, doch wir als Bauleute errichten Gebäude für fünfzig oder sechzig Jahre."
"Der dritte Pädagoge ist das Gebäude"
Bildungsexpertin Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) sieht die Kommunen mit dem Ausbau und der Sanierung der Schulen überfordert. "Man bräuchte eine Bundesinitiative, die sagt: Der dritte Pädagoge ist das Gebäude, auch das macht was mit den Kindern", fordert Hoffmann. "Da müsste es vom Bund aus, vom Bundesbildungsministerium einen Impuls geben, und dann müsste man darüber nachdenken, wie man konkret ein Programm unterstützt, dass die Kommunen finanziell und moralisch dahin bringt, die Gebäude so zu ertüchtigen, dass man da auch gut leben und lernen kann."
Hinweis der Redaktion: Aufgrund eines Übertragungsfehlers stand in einer früheren Version dieser Meldung, dass der Landkreis Lüneburg einen Sanierungsstau von 557 Millionen Euro habe. Das ist falsch. In Wirklichkeit sind es nur 55,7 Millionen. Wir haben die entsprechechende Stelle aus dem Text entfernt und bitten um Entschuldigung.