Die Nordreportage
Freitag, 18. Oktober 2024, 14:00 bis
14:30 Uhr
Nicht verheiratet, keine Kinder, keine Schulden, keine Vorstrafen, aber einen Gesellenbrief: Das waren die Voraussetzungen für Adrian Blendinger, um auf Wanderschaft gehen zu dürfen. Der Tischlergeselle aus einem Dorf bei Tübingen ist seit gut fünf Jahren auf der Walz und liebt dabei "das Gefühl der großen Freiheit". Adrian reist, wie jeder Wandergeselle, ohne Handy und Laptop durch die Welt und mit nur ein paar Kilo Gepäck auf seinen Schultern. Der 29-Jährige will auf der Walz in fremden Handwerksbetrieben verschiedene Arbeitstechniken erlernen, Lebenserfahrungen sammeln und menschlich reifen. Mal reisen, mal arbeiten, so sieht seine Wanderschaft aus.
Traditionen werden eingehalten
Mit seinem Reisekameraden, dem 19-jährigen Zimmergesellen Victor Mühlbeyer, macht er Zwischenstation in Hamburg. Dort können sie in einer Unterkunft ihrer Gesellenvereinigung namens Die rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen zu Altona übernachten. Das ist purer Luxus für sie, denn oft müssen sie sogar auf der Straße übernachten. Für Transport oder Logis dürfen sie auf der Wanderschaft kein Geld ausgeben, das ist alte Tradition.
700 Gesellen sind auf Wanderschaft
Insgesamt gibt es hierzulande neun Schächte und Gesellenvereinigungen. Etwa 700 Wandergesellen aus Deutschland reisen derzeit durch die Welt. In Hamburg gibt es für Adrian und Victor eine spezielle Anlaufstelle, eine sogenannte Herberge für Wandergesellen, wo sie erste Informationen über die Stadt und Hilfe bekommen. Es ist ein Ecklokal auf St. Pauli, wo auch die Jahresabschlussfeier ihrer Gesellschaft stattfinden wird. Zunftbrüder treffen sich hier einmal im Jahr, um feuchtfröhlich ihre Rituale auszuleben. Auch Adrian und Victor feiern mit. Sie sind auch deshalb nach Hamburg gekommen, um sich in einem Fachgeschäft für Wandergesellen neue Kluft zu besorgen.
Fachgeschäft für eine neue Kluft
Seit über 100 Jahren existiert der Laden für Zunftkleidung Kurt Gaden in Altona. Für die Tippelbrüder ist er so etwas wie ein kleines Paradies. Das Familiengeschäft für Berufs- und Kluftkleidung fertigt nach Maß Hosen, Westen und Jacken in der hauseigenen Schneiderei an. In den Regalen lagern Filzschlapphüte mit Krempe, Melonen und Zylinder. Chefin Jutta Gaden ist 89 Jahre alt und steht noch täglich im Geschäft, seit 53 Jahren. Auch ihr 71 Jahre alter Sohn Michael und ihre beiden Enkel verkaufen im Traditionsgeschäft, das Juttas Vater Fritz Ulrich 1906 gegründet hat.
Arbeiten, um die Reise zu finanzieren
Geselle Victor lässt sich eine neue Hose maßschneidern und staunt über die vielen alten Bilder von Wandergesellen, die überall im Laden hängen. Victor und Adrian trinken anschließend noch ein paar Bierchen in einer Kneipe, dann geht es in ihre Herberge. Überraschend übernachten dort noch drei weitere Wandergesellen. Es wird eng im kleinen Zimmer mit den Etagenbetten. Sechs Wochen später holt Victor seine maßgeschneiderte Hose im Zunftladen Gaden wieder ab. Adrian begleitet ihn. Er arbeitet inzwischen bei einem kleinen Tischlerbetrieb in Oldenburg in Holstein. Schließlich muss seine nächste Reise mit dem Arbeitslohn finanziert werden.
"Die Nordreportage" taucht ein in die Welt der Wandergesellen, die während ihrer Tippelei auf viel verzichten müssen, aber dennoch Erfüllung finden. Wie funktioniert ein Leben ohne Telefon, Computer und Familie mit nur ein paar Euro in der Tasche?
- Produktionsleiter/in
- Karin Hauschildt
- Thorsten Köpp
- Redaktion
- Birgit Schanzen
- Autor/in
- Stefan Weiße