Die Geburt des kritischen Journalismus
Gleichwohl hieß es in der Praxis der ersten Rundfunkmonate zunächst einmal: Learning by doing. Vor allem die in den 1920er-Jahren Geborenen nutzten die sich ihnen bietende Chance. Viele neue Stimmen waren zu hören; Stimmen, die später prägend für die Programme der Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland werden sollten.
Zu dieser sogenannten Frontsoldaten- und Flakhelfer-Generation gehörten unter anderem Carsten Diercks (1921-2009), Heinrich von Tiedemann (*1924), Jürgen Roland (1925-2007), Claus-Hinrich Castorff (1925-2004) und Gerd Ruge (*1928). Bei ihren ersten Schritten hin zu einem neuen, kritischen Journalismus erwiesen sich die Offiziere in britischer Uniform weniger als strenge Überwacher und Kontrolleure denn als väterliche Freunde und Helfer.
Viel von den Engländern gelernt
Er sei ein "englisch angehauchter deutscher Journalist" gewesen, resümierte der langjährige "Monitor"-Chef Claus-Hinrich Casdorff mit Blick auf seine berufliche Sozialisation beim Nordwestdeutschen Rundfunk. "Es gibt eine ganze Menge", so Casdorff, "was wir damals von den Engländern gelernt haben. Zum Beispiel die Trennung von Kommentar und Nachricht, die Einsatzbereitschaft und die Arbeitsweise." Die neuen Journalisten brachten frischen Wind ins politische Wort-Programm. Vor allem das viertelstündige "Echo des Tages", täglich zwischen 19.30 und 19.45 auf Sendung, entwickelte sich zum Flaggschiff im Programm des NWDR.
Wichtige Hinweise fürs Überleben
Für Berichte aus der Hansestadt und aus den unterschiedlichen Regionen in der flächenmäßig sehr großen britischen Besatzungszone schwärmten die Reporter aus. Das kleine Team zeigte erstaunlich schnell klares Profil. Es sorgte dafür, dass zum Überleben wichtige Hinweise ins Programm kamen. Mit Rückendeckung der britischen Controllers gab man beispielsweise die Fahrpläne der Kohlenzüge bekannt. Indirekt war dies ein Aufruf, sich Briketts von den langsam fahrenden Zügen zu holen.
Der engagierte Einsatz machte auch vor deutschen Beamten nicht Halt. Warum bildete sich eine so lange Schlange vor der Tür des Arbeitsamtes? Warum ging es mit der Arbeitsvermittlung nicht vorwärts? In der Überzeugung, hier gleichsam als Anwalt der Hörer zu handeln, bat einer der jungen Journalisten spontan die Feuerwehr um Unterstützung. Auf deren ausgefahrener Leiter kletterte er vor das Fenster des Behördenchefs, um seine unbequemen Fragen zu stellen.
Kein Wunder also, dass die Reporter des NWDR in den Rathäusern und Amtsstuben mitunter alles andere als gern gesehene Gäste waren. Für viele junge Journalisten war dieses neue Selbstverständnis aber eine Art Befreiung: "Mit einem Mal waren wir in der Lage, uns über Dinge, die uns politisch bewegten, zu äußern", schilderte Carsten Diercks und führte sicherlich generationstypisch aus: "Das haben wir natürlich ausgenutzt."
Journalistinnen in einer Männerdomäne
Obwohl die "Herren Journalisten" den redaktionellen Alltag prägten, weist ein kürzlich wieder aufgefundenes Telefonverzeichnis des Hamburger Senders im Juli 1946 von insgesamt 288 Beschäftigten 110 Frauen aus. Die meisten von ihnen waren freilich als Sekretärin oder Assistentin tätig.
Aber einigen Frauen gelang es nach und nach, Einzug in die traditionell von Männern bestimmte Domäne zu halten. Auch hier ist die Generation der in den 1920er-Jahren Geborenen prägend. Bekannte Namen wie Hilde Stallmach (1923-2011), Helga Norden (1924-2011) und Helga Boddin (1926-2006) gehören dazu.
Eine herausragende Stellung erreichte Julia Nusseck. "So viele Handicaps es für eine Frau auch gab, vor allem natürlich im Medienbereich, einen Vorteil hatte ich - und das klingt natürlich sehr zynisch - ich war eine Kriegsgewinnlerin", äußerte die Journalistin 2001 in einem Interview. Während ihre männlichen Altersgenossen an die Front mussten, konnte die 1921 in Hamburg geborene Julia Nusseck ihr Studium der Volkswirtschaftslehre 1944 mit einer Promotion abschließen. Ihre Karriere führte sie in den Wirtschaftsfunk.
Zunächst arbeitete sie als Redakteurin, wenig später übernahm sie dessen Leitung. "Ausgerechnet eine Frau vermittelt Wirtschaft? Wirtschaft ist doch Männersache", erinnert sich die spätere Fernseh-Chefredakteurin und Präsidentin der Niedersächsischen Landeszentralbank an die damals bestehenden Vorurteile im Sender und in der Gesellschaft. Obwohl man den Sachverstand und die Gabe der Redakteurin, schwierige Sachverhalte geschickt zu vermitteln, schätzte - vor das Mikrofon ließ man die junge Dame nicht: Noch längere Zeit las ein Sprecher ihre Texte im Studio.
- Teil 1: Eggebrecht und von Zahn - das führende Zweierteam
- Teil 2: Learning by doing