Stand: 04.05.2016 15:33 Uhr

Der NDR Chor feiert Jubiläum

von Habakuk Traber
Ensemblebild auf Treppe: der NDR Chor © NDR Foto: Michael Müller_www.mmfoto.de
In voller Besetzung: Der NDR Chor.

Der NDR Chor feiert 70-jähriges Jubiliäum. Am 1. Mai 1946 wurde er in Hamburg offiziell gegründet, bereits am 7. Mai produzierte er seine erste Aufnahme, „Otto und Theophanos“: ein selten gespieltes Oratorium von Georg Friedrich Händel.

Heute ist der NDR Chor der professionelle Konzertchor des Nordens. Basis und Zentrum ist Hamburg. Hier veranstaltet er seit 2008 erfolgreich eigene Abonnementskonzerte, hier konzertiert er mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, mit Ensembles Alter und Neuer Musik und mit Instrumentalgruppen, die ihr Arbeitsfeld - wie der Chor selbst - epochenübergreifend bestimmen. Den künstlerischen Kern bildet der a-cappella-Gesang, Ideal und Prüfstein jeder Chorkultur.

Auch im Sendegebiet präsent

Kein anderer Rundfunkchor unternimmt im Einzugsbereich seines Senders so zahlreiche, örtlich breit gestreute und programmatisch vielfältige Initiativen. Der NDR Chor ist im gesamten Sendegebiet des Norddeutschen Rundfunks präsent: in Hannover, Schwerin und Kiel, in Wismar, auf Usedom, in Lübeck, Lüneburg, Ludwigslust, Winsen, Bremen und in Göttingen, wo er regelmäßiger Partner der Händelfestspiele ist.

Der Chor leistet damit eine kulturelle Breitenarbeit, vertieft und ergänzt durch überregionale Kooperationen und Gastspiele, aber auch durch Education-Angebote und Aktivitäten wie das Mitsing-Konzert SINGING!

Dynamische musikalische Entwicklung

Singende Chorsänger sitzen zwischen den Familien im Rolf-Liebermann-Studio. © NDR Foto: Marcus Krueger
Musik verbindet: Solistinnen des NDR Chores haben sich unter die Konzertbesucher gemischt.

In den sieben Jahrzehnten seines Wirkens haben sich Grundlagen, Schwerpunkte, Stil sowie Konzert- und Kommunikationsformate des Chores mehrfach gewandelt. Ins Leben gerufen wurde er „hauptsächlich, um den Orchestern des NDR einen Berufschor für oratorische Werke an die Seite zu stellen“, so NDR Intendant Jobst Plog 1996. Die Sender brauchten nach Kriegsende Aufnahmen, ihre Archive waren leer. Nach dem Willen der Alliierten sollten die neu gegründeten Rundfunkanstalten eine wesentliche Rolle bei der geistigen Erneuerung Deutschlands nach zwölf Jahren NS-Herrschaft spielen. Kunst, Kultur und Bildung sollten in diesem Prozess eine Schlüsselrolle übernehmen.

Deshalb stand in der Musik die Förderung und Verbreitung der klassischen und der zeitgenössischen Moderne, die von den Nationalsozialisten diffamiert und verboten worden war, weit vorn auf der rundfunkpolitischen Agenda. Als Vermittler und Multiplikatoren des kulturell Neuen wirkten die Sender durch ihre Programme und Übertragungen, ihre Chöre und Orchester durch Live-Konzerte. So war der Rundfunk von Anfang an auch schon Konzertveranstalter.

Neue Musik ist gefragt

Komponisten der ersten Nachkriegsjahrzehnte waren froh, in den Rundfunkchören professionelle Ensembles zu finden, die alle Formen des Stimmeinsatzes praktizierten und damit experimentelle Musik für Vokalensembles auf hohem Niveau erst ermöglichten. Manches Werk, das heute zu den Klassikern der Nachkriegsmoderne zählt, wäre ohne die Rundfunkchöre nicht geschrieben worden.

Proben zur Aufführung "Das Floß der Medusa" in der Halle B in "Planten un Blomen". © NDR Foto: Hans-Ernst Müller
Charles Regnier und Hans Werner Henze bei den Proben zur Aufführung "Das Floß der Medusa".

Zu den Arbeiten, denen der NDR Chor durch Ur- oder Erstaufführung und kompetente Interpretation ins Repertoire verhalf, zählen Schönbergs „Jakobsleiter“, Strawinsky „Threni“, Ligetis Requiem, Henzes „Floß der Medusa“, Stockhausens „Atmen gibt das Leben“ und Pendereckis „Lukas-Passion“. Sie setzten in der Musikgeschichte der vergangenen siebzig Jahre richtungsweisende Akzente.

In der Tradition großer Chormusik mit Orchester

Die Großen Oratorien von Bach und Händel, die Choresymphonischen Werke der Klassik, Romantik und der anbrechenden Moderne gehörten von Anfang an zum täglichen Brot des NDR Chores. In der ersten Phase kamen noch regelmäßige Opernproduktionen für den Rundfunk und - in dessen Pionierzeit - für das Fernsehen hinzu. Sie bilden heute die Ausnahmen.

Archivbild: Chorsänger sitzen mit Noten auf einer Treppe und üben. © NDR
Das Repertoire verlangt vollen Einsatz: Chormitglieder bei der Probe.

Besonders auf dem Gebiet der Kantate, des Oratoriums und der Chorsymphonik hat sich Grundlegendes geändert. Bach z. B. wird heute anders gesungen und gehört als 1949. Der Spielraum verschiedener Interpretationen ist dadurch wesentlich breiter geworden. Stilbewusstsein und Stilsicherheit aber gelten nach wie vor als unverzichtbare Kriterien verantwortungsvollen und professionellen Musizierens.

An die Aus- und Weiterbildung der Sängerinnen und Sänger stellt die Breite des Aufgabengebiets genauso hohe Anforderungen wie an einen Gesangssolisten. Dies gilt sowohl für a-cappella- als auch für ensemblebegleitete Chormusik. Die Programme der Abonnementskonzerte der letzten sieben Jahre dokumentieren diese Breite, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf dem Chorgesang ohne instrumentale Unterstützung liegt.

Ein Sohn der Stadt Hamburg

Der Komponist Johannes Brahms in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts. © picture-alliance / akg-images
Der Komponist Johannes Brahms - seine Werke gehören einfach dazu.

Vielleicht gibt es über die Jahrzehnte einen etwas verborgenen Schwerpunkt, der mit der Stadt Hamburg zusammenhängt: Brahms Werke von den Volksliedsätzen bis zum Requiem sang der NDR Chor regelmäßig. Die Einspielung sämtlicher Chorwerke des gebürtigen Hanseaten 1982 galt als Referenzaufnahme und wurde mit dem Musikpreis „Orphée d’or“ ausgezeichnet.

Neue Schwerpunkte und Aufgaben

Am 22. Dezember 1946 sang der NDR Chor sein erstes öffentliches Konzert. Mit Berlioz’ „L’enfance du Christ“ wählte man eine romantische Rarität und eine kluge Abwechslung zu Bachs „Weihnachtsoratorium“. Regelmäßig wirkt der Chor seitdem bei Live-Konzerten mit, auch mit a-cappella-Werken. Im Laufe der Zeit verschoben sich bei ihm wie bei allen Rundfunkensembles die Gewichte von der Studioarbeit zur öffentlichen Konzerttätigkeit, von Programm- zu Tonträgerproduktionen. Kooperationen gewannen dabei immer mehr an Bedeutung.

Blick auf St. Georgen in Wismar aus der Luft © Tourismuszentrale Wismar
Die Kirche St. Georgen. Auch in Wismar ist der NDR Chor regelmäßig zu Gast.

Die Veränderungen im kulturellen Leben und die Rundfunkreform nach der deutschen Wiedervereinigung brachten auch für den NDR Chor Einschnitte. Seine Stammbesetzung ist heute nur noch halb so groß wie zur Gründungszeit. Er arbeitet auf der Basis eines transparenten Kammerchorklangs, die er durch das Engagement zusätzlicher Sängerinnen und Sänger erweitern kann.

Chor mit unverwechselbarer Identität

Wo in Oratorien oder Chorsymphonik große Besetzungen verlangt werden – etwa in Symphonien von Mahler oder in Brahms’ Requiem – arbeitet der NDR Chor mit anderen Rundfunkchören zusammen. Dass die Choristen nach solchen Aufführungen besonderen Beifall erhalten, dass Rezensenten von „dem Chor“ schreiben, der eigentlich von zweien oder mehreren gebildet wird, ist ein weiterer Beleg für die Professionalität der Sängerinnen und Sänger. Und für ihre Fähigkeit, die Entfaltung der individuellen Stimme reibungslos in einen größeren Klangzusammenhang einzubringen.

Die unverwechselbare Identität des NDR Chores und die Fähigkeit zur Kooperation ergänzen einander und eröffnen ihm ein weites musikalisches Spektrum vom klein besetzten Ensemblestück bis zu oratorischen Monumentalwerken, von der Renaissance bis zur Gegenwart.

NDR Chor 1971 © NDR/Annemarie Aldag

Fotoalbum: Der NDR Chor von 1946 bis heute

Mit den Chefdirigenten ändern sich die Repertoires, mit den Moden wechselt die Kleiderordnung: Zum 70. Geburtstag des NDR Chors am 1. Mai blättern wir unser Fotoalbum auf. Bildergalerie

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?