1945: Flüchtlinge in Norddeutschland
Deutschland nimmt nicht zum ersten Mal Flüchtlinge auf. Die deutsche Geschichte ist reich an Beispielen von Zuwanderungen. Zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen hierher, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Rund drei Millionen nahm der Norden der Bundesrepublik auf. Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) - und später der Norddeutsche Rundfunk (NDR) – beschäftigte sich in Berichten und Kommentaren mit dem Thema. In den historischen Programmen entdeckt man überraschende Parallelen zur heutigen Zeit.
Als Radio Hamburg, der Vorläufer von NWDR und NDR, im Mai 1945 seinen Betrieb aufnahm, befanden sich Hunderttausende von Heimatlosen im norddeutschen Sendegebiet. Es waren Deutsche aus Osteuropa. Schlesier, Pommern und Ostpreußen, Balten- oder Sudetendeutsche: Sie alle suchten nach 1945 im Nachkriegsdeutschland ein neues Zuhause. Viele weitere sollten in den nächsten Monaten und Jahren folgen, denn der Norden war von der Zuwanderung der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus Osteuropa besonders betroffen: Hamburg nahm etwa 100.000 von ihnen auf, ca. eine Million kam im Laufe der ersten Nachkriegsjahre nach Schleswig-Holstein und rund 1,8 Millionen zogen nach Niedersachsen.
Die Deutschen, die nach dem Krieg im Norden ankamen, hatten unterschiedliche kulturelle und konfessionelle Hintergründe. Ihre Verhaltensweisen waren den hiesigen Einwohnerinnen und Einwohnern neu, ihre Sprachen klangen andersartig. Die deutschen Flüchtlinge waren Fremde im eigenen Land.
Erinnern und aufklären
Der Rundfunk klärte über die Flüchtlingssituation im Land auf. Reporter versuchten durch ihre Programme, die Neuankömmlinge mit der einheimischen Bevölkerung bekannt zu machen. Oft handelten die Sendungen von der Ankunft der Flüchtlinge und der Neugestaltung ihres Lebens. Die Journalisten berichteten – ganz ähnlich wie heute – über die Zustände in Flüchtlingslagern, auf dem Arbeitsmarkt oder in Schulen. Doch ebenso erzählten sie von der Herkunft der Flüchtlinge, von der sogenannten “alten Heimat“.
Die Journalisten wandten sich also an beide Gruppen gleichzeitig: die Ankommenden und die Aufnehmenden. Für die Flüchtlinge lieferten die Programme Erinnerungen an ihre Herkunft, für die Bevölkerung im Land leisteten sie Aufklärung über die neuen Mitbürgerinnen und –bürger: Im nordwestdeutschen Sendegebiet versuchten der NWDR und der NDR auf diese Weise, einen Beitrag zum Integrationsprozess in der Flüchtlingskrise nach 1945 zu leisten.
"In Flüchtlingslagern erstickt die Begabung“
Die Situation von schulpflichtigen Flüchtlingskindern in den Lagern illustriert beispielhaft die Probleme, die sich durch den Zuzug ergaben. "In Flüchtlingslagern erstickt die Begabung“, lautete das erschütternde Ergebnis einer zeitgenössischen Studie, die der NWDR-Journalist Rolf Heinrich Wecken vorstellte. 243 Jungen und 217 Mädchen waren in einem Flüchtlingslager im Kreis Flensburg befragt worden. Wecken machte auf die Ergebnisse der Untersuchung aufmerksam und hinterfragte sie im Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern sowie mit Experten innerhalb und außerhalb der Lager.
Die Reportage brachte verschiedene Standpunkte zusammen, und Wecken rief die Hörerinnen und Hörer zum Mitdenken auf: "Besuchen Sie einmal die Schule eines Flüchtlingslagers!“, ermunterte er seine Zuhörerschaft. Flüchtlingskinder seien nicht "dümmer oder unaufmerksamer“ als andere, erklärte der Journalist, sondern nur durch die Erlebnisse der vergangenen Jahre im Lernen gehemmt. Er wollte, dass "alle“ seine Hörerinnen und Hörer dafür Verständnis entwickelten, "nicht nur diejenigen, die schon von Berufs wegen für die Jugend verantwortlich zeichnen.“
Der Ehrgeiz der Kinder
Tatsächlich litten Flüchtlingskinder in ihrer schulischen Ausbildung unter den erschwerten Bedingungen. Die Flucht hatte ihnen wertvolle Monate oder Jahre des Schulbesuchs geraubt. Manche der Kinder hatten auf dem Weg ihre Eltern und Angehörigen verloren. So waren sie oft auf sich allein gestellt und vielfach auf staatliche Unterstützung angewiesen. Die Lebensumstände in den Flüchtlingslagern behinderten die Lernsituation – ein Umstand, der auch auf viele Flüchtlingskinder in Deutschland heute zutrifft.
Was Rolf Heinrich Wecken damals noch nicht wissen konnte: Trotz ihrer schwierigen Lebensumstände entwickelten viele der Flüchtlingskinder bald einen besonderen Ehrgeiz, wie historische Forschungen inzwischen gezeigt haben. Viele von ihnen wurden zu den Leistungsträgern der Nachkriegsgesellschaft und stärkten einen neuen Mittelstand, einige machten sogar herausragende Karrieren. Dazu gehörten Bundespräsident a. D. Horst Köhler ebenso wie der SPD-Bildungspolitiker Peter Glotz und der Journalist Hellmuth Karasek. Der Weg vieler Flüchtlinge zur gesellschaftlichen Anerkennung gelang, aber er war weit. Viele hatten lange mit Vorurteilen zu kämpfen.
Nicht neu: Der Streit um die Verteilung
Probleme gab es auch wegen der Frage der ungleichen Verteilung von Flüchtlingen auf das damalige Bundesgebiet. Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern hatten besonders viele Betroffene aufgenommen. Der Flüchtlingsanteil an der Bevölkerung lag dort bei rund einem Drittel, während er im Südwesten unter zehn Prozent betrug. Im Norden mussten viele Menschen lange Zeit in Baracken leben und fanden keine festen Anstellungen.
Deshalb hatte die Bundesregierung im November 1949 eine Verordnung erlassen, um die Verteilung der Flüchtlinge auszugleichen; das Gesetz folgte im Mai 1951. Bis Ende 1952 sollten pro Jahr 300.000 Menschen in die wirtschaftlich starken badischen und württembergischen Länder sowie nach Nordrhein-Westfalen umgesiedelt werden. 1949/50 war der Plan noch fast erfüllt worden, doch schon 1951 geriet er ins Stocken. Nur wenige zehntausend Betroffene wurden 1950/51 erfolgreich umgesiedelt.
Im Interview mit dem NWDR forderte der Vertriebenenpolitiker Dr. Linus Kather am 10. Oktober 1951 eine bessere Mitarbeit der Aufnahmeländer und mehr Vollmachten für den Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek. Er nutzte das Medium Rundfunk, um sich engagiert für die Belange der Vertriebenen einzusetzen und sich Gehör zu verschaffen.
Die Treckvereinigung – ein Schritt zur Selbsthilfe?
Anstatt auf die Beschlüsse der Politiker zu hoffen, nahmen jedoch einige Flüchtlinge ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie wollten nicht länger nur abwarten. Eher nahmen sie einen neuen Treck in Kauf, einen Fußmarsch der Flüchtlinge durch das ganze Land. Es wurde die Stunde von Kurt Dahn, einem Flüchtling aus Ostpreußen. Nach dem Krieg lebte er in der kleinen Gemeinde Süderbrarup an der Schlei in Schleswig-Holstein. In dieser Region lag der Flüchtlingsanteil an der Bevölkerung bei über 40 Prozent. Kurt Dahn wollte helfen und rief zu einem neuen Treck auf – dieses Mal nicht von Ost nach West, sondern von Nord nach Süd. 1951 gründete er dafür einen Verein: die Treckvereinigung. Ihre Geschichte ist ein bisher so gut wie unbekanntes Kapitel der Vertriebenenintegration in Norddeutschland.
In einem Interview mit NWDR-Redakteur Ernst Stolte erklärten Dahn und sein Mitarbeiter Reinhard Noback die Ziele ihrer politisch unabhängigen Bewegung nicht nur, sie klagten die Missstände auch offen an. Ihre Rede sollte das Mitgefühl der ansässigen Bevölkerung wecken und politischen Druck erzeugen. "Sehen Sie, wir und unsere Kinder müssen unbedingt raus aus diesem Elend, bevor wir hier ganz verkommen…!“, so Dahn.
Die Lösung: kirchliche Umsiedlungsstellen
34.000 Freiwillige schrieben sich damals in eine Liste der Treckvereinigung in Schleswig-Holstein ein. In Niedersachsen und Bayern folgten ähnliche Initiativen, die sich mit Dahns Verein in Süderbrarup vernetzten. Letztlich wurde der Schritt zu ihrer radikalen Selbsthilfe aber nicht nötig. Einem anderen Akteur gelang es, das Problem der Umsiedlungen zu lösen.
Das Evangelische Hilfswerk, eine Hilfsorganisation der Evangelischen Landeskirche in Deutschland, initiierte "Aktivitäten zur Wohnraum- und Arbeitsbeschaffung in den Gemeinden der Aufnahmekirchen“ in der Pfalz und in Württemberg, wie der Historiker Hartmut Rudolph herausfand. In den "Abgabeländern“, darunter Schleswig-Holstein, entstanden kirchliche Umsiedlungsstellen. So gingen die Umsiedlungen endlich voran. Kurt Dahns Treckvereinigung war besänftigt und zog nicht auf eigene Faust los.
Eine Botschafterin zwischen den Welten
Auch die Sendungen der ostpreußischen Programmmacherin Marion Lindt behandelten das Schicksal der Flüchtlinge in Norddeutschland. Den Zeitgenossen war Marion Lindt sehr bekannt. Heute ist sie, außer in Vertriebenen- und wissenschaftlichen Fachkreisen, nahezu vergessen.
Marion Lindt war gelernte Schauspielerin, hatte aber auch als Sprecherin für den Reichssender Königsberg gearbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Flucht aus Ostpreußen kam sie nach Hamburg, wo sie die Rundfunkarbeit fortsetzte. Ihr Dialekt war sehr gefragt, und sie entwickelte sich zur Expertin für Ostpreußen, die etliche Programme für den Rundfunk über ihre alte Heimat schrieb und sprach. Schnell war Marion Lindt weit über den Norden hinaus bekannt. Nicht nur der NWDR bzw. ab 1956 der NDR, sondern auch Radio Bremen, der SDR in Stuttgart und der HR in Frankfurt am Main zählten zu ihren Auftraggebern. Darüber hinaus trat sie bei zahlreichen Veranstaltungen der Ostpreußischen Landsmannschaft auf.
Mit Humor zur Verständigung
Marion Lindt hatte ein besonderes Talent für Komik, ihre Stücke zählten mehrheitlich zum Programmbereich Unterhaltung. Eine ihrer Spezialitäten waren humoristische Anekdoten aus Ostpreußen, die sie in ihrem heimischen Platt zum Besten gab. Die heiteren Geschichten vermittelten die Kultur und die besonderen Wesenszüge der Ostpreußen. In einer Episode von November 1958 wird dies besonders deutlich.
Erfolg hatte Marion Lindt, weil sie authentisch wirkte. Sie wusste, wovon sie sprach, war sie doch selbst in Ostpreußen aufgewachsen. Das verlieh ihr erzählerische Autorität und Glaubhaftigkeit. Ihren ostpreußischen Hörerinnen und Hörern bot sie die Anekdoten als gemeinsame Geschichte an: Die Ostpreußen sollten sich in den Programmen wiedererkennen und an ihre alte Heimat erinnern können. Den Nicht-Ostpreußen stellte sich Marion Lindt als Botschafterin dar. Sie nahm an, dass viele Hörerinnen und Hörer die Ostpreußen und ihre Eigenheiten nicht ohne Weiteres verstehen könnten.
Damals wie heute: Das Radio als Vermittler
Und in der Tat hatten beide Gruppen in den 1950er-Jahren häufig Verständigungsprobleme. Als "kalt“ empfanden viele Flüchtlinge die neue Heimat im Nachkriegsdeutschland. So beschrieb es der Historiker Andreas Kossert und meint damit die soziale Kälte damals, die den Fremden wegen der sehr ablehnenden Haltung der Einheimischen entgegenschlug. Radiomacherinnen und -macher wie Marion Lindt verstanden sich als Brückenbauer und versuchten, mit ihren Programme Missverständnisse abzubauen.
Die Beispiele zeigen, dass der Rundfunk unmittelbar mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dabei half, einen gesellschaftlichen Diskurs über Flucht und Vertreibung in Gang zu setzen. Er thematisierte die gemeinsame Vergangenheit und eine gemeinsame Gegenwart. Er bot Berichte über die politische Lage, eröffnete Foren zur Teilhabe und lud zum gemeinsamen Nachdenken über Ankunft und – vielleicht noch wichtiger – auch über Herkunft ein.
Krisen in Flüchtlingslagern, die Not von Kindern, Probleme bei der Verteilung von Flüchtlingen oder auch bei der sprachlichen Verständigung spielen heute wie damals eine Rolle. Der historische Vergleich kann dabei helfen, die Geschichte von Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen. Die Radiosendungen von damals machen dies besonders anschaulich.
Alina Laura Tiews ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Mediengeschichte des Hans-Bredow-Instituts in Hamburg. In ihrer 2015 erfolgreich abgeschlossenen Dissertation ging sie der Frage nach, welche Rolle Flucht und Vertreibung im Film und Fernsehen der DDR und der Bundesrepublik spielten. In ihrem neuen Forschungsprojekt untersucht sie historische Radioprogramme über die Situation der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland.