Jahrhundertgift PFAS: 1.500 verschmutzte Orte in allen Bundesländern – eine exklusive Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung
An mehr als 1.500 Orten lässt sich in Deutschland das Jahrhundertgift PFAS nachweisen. Das zeigt eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Die drei Medien haben darüber hinaus mehrere hundert Industriestandorte, Kläranlagen, Deponien, Flughäfen und Militärgelände identifiziert, bei denen die Gefahr besteht, dass auch hier Böden und Gewässer verunreinigt sein könnten.
Die Recherchen zeigen: Das Problem ist viel größer als bisher bekannt. Und sie zeigen auch, dass die Bevölkerung in vielen Fällen bisher nicht über die Verschmutzung informiert wurde. NDR, WDR und SZ machen deshalb im Rahmen des „Forever Pollution Project“ all diese Orte auf einer interaktiven Karte auf tagesschau.de sowie auf sz.de sichtbar.
Sogenannte PFAS, per- und polyfluorierte Chemikalien, sind eine Gruppe von mehr als 10.000 künstlich hergestellten Stoffen. Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend und werden fast überall eingesetzt: in Regenjacken, beschichteten Pfannen und in dem Papier, in das Burger eingewickelt werden. Auch Löschschäume zur Brandbekämpfung oder die Kühlmittel in Wärmepumpen können PFAS enthalten. Wenn sie einmal in der Umwelt sind, bleiben sie dort für sehr lange Zeit und reichern sich auch im menschlichen Körper an. PFAS stehen in Verdacht, unfruchtbar zu machen und zu Fettleibigkeit und Krebs zu führen.
Reporterinnen und Reporter von 18 europäischen Medien haben im „Forever Pollution Project“ mehr als 100 Datensätze ganz Europa miteinander verbunden und so europaweit mehr als 17.000 Orte mit relevanter PFAS-Verschmutzung lokalisiert, darunter mehr als 2.000 Hotspots mit erheblichen Gefahren für die menschliche Gesundheit. Mehr als 300 dieser Hotspots befinden sich der Recherche zufolge in Deutschland.
Vermutlich ist die Zahl verunreinigter Orte noch deutlich höher, denn Behörden testen bislang nicht systematisch auf eine Verschmutzung mit PFAS. Deshalb haben NDR, WDR und SZ mit ihren europäischen Partnern die wissenschaftliche Methodik des PFAS-Project-Lab der amerikanischen Northeastern University auf Europa übertragen. Dadurch konnten in Deutschland zusätzlich mehrere hundert Orte identifiziert werden, an denen Boden und Grundwasser möglicherweise verschmutzt sind. In Europa hat das „Forever Pollution Project“ sogar mehr als 20.000 solcher Orte lokalisiert und auf einer Karte veröffentlicht. In Verdacht stehen Standorte der Textil- und Plastikindustrie sowie der Metallveredelung und der Papierindustrie, dazu Flughäfen, Militärstandorte, Deponien und Kläranlagen.
In Deutschland gibt es der Recherche zufolge zudem sechs Fabriken, die PFAS produzieren – das sind der Erhebung zufolge mehr als in jedem anderen Land in Europa. In und um diese Fabriken herum besteht wohl die größte Gefahr, dass die Umwelt massiv verseucht ist. Diese Fabriken stehen in Bad Wimpfen (Solvay), in Frankfurt (Daikin), in Leverkusen (Lanxess) und im bayerischen Chemiepark Gendorf bei Burgkirchen an der Alz, wo sich gleich drei PFAS-Produzenten niedergelassen haben (3M, W.L. Gore und Archroma). Alle Produzenten schreiben, dass sie sich an die gesetzlichen Vorschriften halten und sich um eine Reduzierung der Schadstoffe bemühen, nur die Firma Archroma hat auf mehrere Anfragen nicht reagiert. Die Firma 3M, die in Gendorf produziert, hat angekündigt, bis Ende 2025 aus der PFAS-Produktion auszusteigen.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte im Interview mit dem ARD-Politikmagazin Panorama, dass die ganze Stoffgruppe der PFAS grundsätzlich überprüft und die gefährlichen Stoffe verboten werden müssten, „weil wir uns nicht leisten können, sie weiter in diesem Umfang in die Umwelt zu entlassen – mit teilweise unbekannten Folgen, aber der Sicherheit, dass sie uns Jahrzehnte oder Jahrhunderte begleiten werden.“
Vor gut zwei Wochen hatte die zuständige EU-Behörde ECHA einen Vorschlag von fünf Ländern, darunter Deutschland, vorgestellt, die Stoffgruppe der PFAS überwiegend zu verbieten. Bislang sind nur zwei Stoffe der Gruppe verboten, PFOS und PFOA.
Die mehr als 10.000 Stoffe sollen – mit einer Übergangsfrist von wenigen Jahren – nicht mehr verwendet werden dürfen. Doch die Industrie läuft schon seit vielen Monaten Sturm gegen ein drohendes Verbot.
Rund 100 Lobby-Verbände und Firmen wirken dafür auf die zuständige EU Behörde ECHA ein, darunter auch deutsche Großkonzerne wie Bayer und BASF. Das geht aus mehr als 1200 Dokumenten hervor, die Reporter des „Forever Pollution Project“ mit Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz in Brüssel erhalten haben. Die Unternehmen versuchen, das Verbot mit Ausnahmen zu verwässern. BASF und Bayer schreiben auf Anfrage, ein mögliches Verbot dürfe nicht die Verwendung von PFAS in Schlüsselsektoren verhindern. BASF nennt etwa Batterien, Halbleiter, Elektrofahrzeuge und erneuerbare Energien. Eine Entscheidung über das PFAS-Verbot wird wohl im Jahr 2025 fallen.
Das „Forever Pollution Project“ wurde finanziell unterstützt vom Journalismfund.eu und von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) und umgesetzt mit Hilfe von Arena for Journalism in Europe und deren Food & Water-Netzwerk. Neben, NDR, WDR und SZ waren die folgenden Medien beteiligt: Le Monde (Frankreich), Knack (Belgien), Denik Referendum (Tschechien), Politiken (Dänemark), YLE (Finnland), Reporters United (Griechenland), Radar und Le Scienze (Italien), Radio Latvia (Lettland), The Investigative Desk und NRC (Niederlande), SRF (Schweiz), Datadista (Spanien), Watershed Investigations und The Guardian (Großbritannien).
Sendehinweis: Über dieses Thema berichtet Panorama, am 23.Februar ab 21.45 Uhr in Das Erste.
Die interaktive Karte auf tagesschau.de ist ab Donnerstag, 23. Februar, 6 Uhr unter folgendem Link abrufbar: http://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/pfas-chemikalien-deutschland-101.html
Sowie auf SZ.de unter: https://www.sueddeutsche.de/pfas
23. Februar 2023
***************************************
Norddeutscher Rundfunk
Unternehmenskommunikation
Presse und Kommunikation
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg
presse(at)ndr.de
www.ndr.de
www.twitter.com/NDRpresse