Eine Villa für den Hörfunk
Seit knapp 100 Jahren liegt an der Rothenbaumchaussee 132 die Zentrale des Rundfunks in Hamburg. Im Jahr 1928 mietete das junge Unternehmen der Nordischen Rundfunk AG, kurz NORAG, die dortige Patriziervilla aus dem 19. Jahrhundert, um zunächst Verwaltung und Direktion hier unterzubringen. Kurze Zeit später verschmolz die repräsentative Villa mit dem neuen Rundfunkhaus. Obwohl sie nach außen hin überbaut und durch einen Neubau ergänzt wurde, gab sie gestaltende Elemente vor. Viele ihrer Innenräume blieben in Dekor und Benutzung bestehen. Die Villa war der Ausgangspunkt eines stetig wachsenden Rundfunkgeländes am Rothenbaum.
Engelbrecht’sche Villa (1884)
Die sogenannte Engelbrecht’sche Villa war in ihrer aufwendigen Fassadengestaltung stellvertretend für die Architektur des vornehmen Hamburger Stadtteils Harvestehude. Mit opulentem Stuck und Marmor ausgestattet, entsprach sie einem repräsentativen Bau der Oberschicht. Die großbürgerlichen Villen mit ihren weitreichenden Gärten waren einheitlich durch Veranden und Vorgärten von der Rothenbaumchaussee abgerückt.*(1) Erbaut wurde die Villa 1884 durch die Hamburger Architekten Puttfarken & Janda für Gustav Engelbrecht (1848–1923). Nach dem Verlust seines Vermögens verkaufte der Hamburger sein Haus zunächst an C. von Hein. Doch war auch dieser bald genötigt, die Villa erneut zu veräußern und Mobiliar und Kunstwerke 1926 versteigern zu lassen.*(2)
Hörfunk aus Patriziervilla
Durch das schnelle Anwachsen der NORAG entstand schon früh Raumnot im ehemaligen Fernmeldeamt in der Binder-, Ecke Schlüterstraße.*(3) Für die nötige Erweiterung sorgte eine herrschaftliche Villa an der Rothenbaumchaussee 132. Ab März 1928 diente sie als Provisorium: Verwaltung und Direktion zogen in das angemietete Gebäude. Weniger aufwendige Aufnahmen fanden im "kleinen Funksaal" statt, dem früheren Tanz- und Festsaal zur Rückseite des Hauses. Auch Regie- und Geräuschräume konnten eingerichtet werden. Im Obergeschoss bildete man, als Teil der Hans-Bredow-Schule, unter anderem Ansager- und Sprecher*innenpersonal aus. Die Villa fungierte als fruchtbare Keimzelle eines modernen Funkhauses, dessen Planung bereits begonnen hatte.
Plan eines Funkhauses – Umbau der Villa
Als die Villa schließlich zum Verkauf stand, schlug die NORAG im Mai 1929 für 290.000 Reichsmark zu. Mit fünfjährigem Bestehen begann zeitgleich auch die Planung eines Neubaus. Doch gab es für den Gebäudetypus kaum Erfahrungswerte oder Vorlagen: Das erste Funkhaus war erst 1929 in München eröffnet worden – Frankfurt am Main folgte 1930, Berlin und Hamburg 1931.*(4)
Die Hamburger Architekten Puls & Richter wurden damit beauftragt, den Entwurf eines Um- und Anbaus der Villa vorzulegen und ein Rundfunkgelände zu konzipieren.*(5) Bereits 1924 hatte das Architekturbüro den Wintergarten der Villa fertiggestellt und war daher mit ihrer Architektur und Modernisierung bestens vertraut.*(6)
Die historische Villa der 1880er Jahre verschmolz mit einem modernen Neubau. Das neue NORAG-Haus umschloss die Engelbrecht‘sche Villa und ließ sie hinter einer schlichten Fassade verschwinden. Ihr Aufbau blieb jedoch sichtbar.*(7)
„Mancher Passant des Rothenbaums hat mit skeptischem Interesse, mancher leider mit Vergangenheitswehmut beobachtet, wie die alte Patriziervilla, in der die Norag Unterkunft gefunden hatte, langsam von dem daneben entstehenden Neubau verschlungen wurde. Diesen konnte man natürlich nicht dem etwas steifen Wohnstil des vornehmen Viertels von 1880 anpassen, das wäre ein zu starker Widerspruch zu dem Innern eines Gebäudes gewesen, in dem zeitgemäße Kunst, Literatur und Aktualität in Gemeinschaft mit modernster Technik herrschen sollen.“ Kurt Klose, Jahrbuch der NORAG (1930), S. 28.
Fusion aus Villa und Funkhaus
Von der Schauseite der Rothenbaumchaussee war die Villa nach der Überbauung lediglich anhand der Fensterreihung zu erahnen. Die reich stuckierten und dekorierten Räume im Inneren des Gebäudes behielten hingegen ihren Charakter – so das Vestibül, das daran anschließende repräsentative Treppenhaus und der rückseitig gelegene Wintergarten mit seinen Palmen. Hier zogen die Funktionsräume der NORAG ein: Warteraum, Sendesaal und Verwaltungsräume. im Zuge verschiedener Um- und Anbauten hat sich das großbürgerliche Dekor der Innenräume jedoch nicht erhalten.
Weiternutzung und bürgerliches Selbstverständnis
Dass die Architekten bewusst das Interieur und die Bausubstanz der alten Villa würdigten, anstatt sie abzureißen und von Grunde auf zu modernisieren, lag sicherlich am laufenden Betrieb und hatte kostensparende Gründe. Doch gehen diese sehr praktischen Erwägungen mit der Wahrung einer Tradition einher, die eng an das bürgerliche Selbstverständnis der Freien und Hansestadt Hamburg gebunden ist: Die Villa verweist auf die großbürgerliche Prägung des Stadtteils. Im Jahr 1924 durch ambitionierte Hamburger Kaufleute gegründet, bezog die NORAG wiederum die Villa zweier Kollegen. Die Engelbrecht’sche Villa spiegelt als Kern des Neubaus die Firmen- wie auch die Hamburger Stadt- und Zeitgeschichte.