Pogromnacht 1938: Attentat und Propaganda - Eine Chronologie
Das Attentat eines Juden auf den NS-Diplomaten Ernst vom Rath im November 1938 ist für die Nazis der willkommene Vorwand für Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Eine Chronologie der Ereignisse.
Paris, 7. November 1938: Am Morgen betritt ein junger Mann die deutsche Botschaft in Paris. Es ist der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan. Er erklärt, er müsse dem Botschafter ein wichtiges Dokument persönlich überbringen. Die Angestellten führen ihn zum Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Grynszpan schießt auf den Diplomaten und verletzt ihn mit fünf Schüssen lebensgefährlich.
Herschel Grynszpan ist der Sohn polnischer Juden, die 1911 nach Deutschland geflohen waren. Bei den Vernehmungen nach dem Attentat sagt er, er habe eine Postkarte seiner Schwester erhalten. Darin habe sie ihm mitgeteilt, dass ihre Eltern der Deportation in das Grenzgebiet zu Polen zum Opfer gefallen seien. Um das Schicksal seiner Eltern und das 17.000 anderer deportierter Juden zu rächen, habe er das Attentat begangen. Die genauen Hintergründe der Tat sind bis heute umstritten.
7. November, abends: Vereinzelt kommt es bereits zu Pogromen, die den Eindruck erwecken sollen, es handele sich hierbei um "Demonstrationen" der Deutschen gegen den Verantwortlichen des Attentats - das "internationale Judentum". Um 21.25 Uhr erhalten alle Tageszeitungen einen Rundruf des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) mit der Aufforderung, "in größter Form über das Attentat auf den Legationssekretär in der deutschen Botschaft in Paris [zu] berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen."
München, 9. November 1938, 21 Uhr: Adolf Hitler und ein Teil der Nazi-Führungsspitze feiern den Jahrestag des missglückten Hitler-Putsches, den Marsch auf die Feldherrenhalle in München 1923. Ein Bote teilt Hitler mit, dass Ernst vom Rath seinen Schussverletzungen erlegen sei. Da vom Rath bereits nachmittags um 17.30 Uhr gestorben ist, ist bis heute in der Forschung strittig, ob Hitler davon tatsächlich erst jetzt erfährt. Gesichert ist, dass er nach einem kurzen Gespräch mit Joseph Goebbels den Raum verlässt, ohne seine übliche Jahrestagsansprache zu halten.
9. November, 22.30 Uhr: Nach einer antisemitischen Hetzrede von Goebbels werden die ersten Anweisungen an Partei- und SA-Stellen herausgegeben. Darin wird zur Zerstörung jüdischer Synagogen und Geschäfte aufgerufen. Der Sicherheitsdienst (SD) und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) bekommen den Befehl, sich herauszuhalten. Allerdings sollen Plünderungen verhindert, Nachbargebäude von Synagogen vor Bränden geschützt und Ausländer nicht belästigt werden.In der Nacht werden im gesamten Deutschen Reich gewalttätige Übergriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger und deren Geschäfte und Synagogen durchgeführt.
In dieser Nacht und unmittelbar in Folge des Pogroms werden mehr als 1.300 Menschen ermordet, über 30.000 Jüdinnen und Juden verhaftet, 1.406 Gottes- und Gemeindehäuser zerstört und mehrere Tausend Geschäfte verwüstet. An der Aktion beteiligen sich SS- und SA-Männer, NSDAP-Mitglieder und andere Teile der deutschen Bevölkerung.
10. November, nachmittags: Goebbels lässt über den Rundfunk eine Sondermeldung verbreiten: "Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes" über den "Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten" habe sich in der vergangenen Nacht "in umfangreichem Maße Luft geschafft". Der Propagandaminister erklärt die Pogrome offiziell für beendet.
Weiter heißt es: "Die endgültige Antwort auf das Attentat wird auf dem Weg der Gesetzgebung beziehungsweise der Verordnung dem Judentum erteilt werden."
Tatsächlich finden in verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs bis zum 15. November noch weitere Übergriffe statt.
Ein willkommener Vorwand
Für die NS-Führung war das Attentat ein willkommener Anlass, um die geplanten Übergriffe auf Juden durchzuführen. Propagandaminister Goebbels inszenierte das Pogrom als sogenannten "Volkszorn". Es sollte so aussehen, als ob sich das deutsche Volk an den Juden für den Tod vom Raths rächen würde. Tatsächlich ging der Reichspogromnacht eine lange Planung voraus. Nach den staatlich angeordneten Boykott-Aktionen gegen jüdische Geschäfte ab April 1933 und den Nürnberger Gesetzen 1935 erreichte der antisemitische Nazi-Terror in den Tagen um den 9. November seinen vorläufigen Höhepunkt.