Vom Flüchtling zum Geflüchteten
Anfang des Jahres schien die Bewegung gescheitert. Das Camp am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg war niedergebrannt worden, die Flüchtlinge in der nahegelegenen Gerhart-Hauptmann-Schule mussten bereits ein halbes Jahr vorher ausziehen. Beides waren Symbole der deutschen Flüchtlingsbewegung für mehr Selbstbestimmung.
Denn bundesweit formierten sich rechte Bewegungen wie Pegida und ihre Ableger und Unterkünfte für Asylsuchende wurden angezündet. Immer mehr Politiker verschärften ihre Rhetorik, wetterten gegen "Asylmissbrauch", erklärten vor laufender Kamera den Flüchtlingen, es könnten nicht alle aufgenommen werden, oder nahmen kalkulierend "besorgte Bürger" ernst.
Residenzpflicht nur noch auf dem Papier
Doch jetzt ist diese Bewegung zurück, die sich bereits abgezeichnet hatte: Heute gibt es die Residenzpflicht nur noch auf dem Papier. Die Dublin III-Vereinbarungen sind praktisch außer Kraft gesetzt. Beides Gesetze, die die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge einschränken.
Die Abschottung der Grenzen, das Racial-Profiling (Personenkontrollen aufgrund des Aussehens) in den Zügen, die Stacheldrahtzäune und das Wehklagen über die bösen Schleuser gibt es zwar immer noch, doch weniger Flüchtlinge kommen deshalb keineswegs. Die Angst-Rhetorik der Rechten, das Schüren übler Ressentiments, ja, selbst die brennenden Flüchtlingsheime haben ohnehin niemanden davon abgehalten, zu fliehen. Sie sind - und waren es eigentlich immer: obsolet. Denn die Flüchtlinge entscheiden selber, wohin sie gehen.
Neue Wege
Auch wenn Horst Seehofer jüngst mit bayerischer Initiative prahlt, die zu den Grenzkontrollen geführt hätte. Auch, wenn es ihm gelingt, am Münchner Hauptbahnhof die Flüchtlinge von den Besuchern des Oktoberfestes zu trennen. Auch wenn die Kanzlerin und ihr Innenminister beteuern, die Flüchtlinge dürften sich ihre Länder nach wie vor nicht selber aussuchen und Dublin III sei intakt. Auch wenn Ungarn Grenzzäune hochzieht, auch dann ist klar: Die Flüchtlinge entscheiden selber wohin sie gehen.
Die Flüchtlinge in Serbien werden neue Wege finden. Und jetzt haben sich tausende Menschen auf den Landweg begeben - durch die Türkei an die griechische Grenze - um nicht die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen zu müssen. Sie werden Einlass fordern.
Europa muss sich entscheiden
Die Flüchtlinge werden spätestens im Winter Europa zwingen, sich zu entscheiden: Zwischen Bewegungsfreiheit oder Internierungslager, zwischen Humanität oder Ignoranz, zwischen Recht auf Asyl oder der Aufgabe der Genfer Flüchtlingskonvention.
Diese Handlungsfähigkeit, Europa zur Entscheidung zu zwingen, haben sich die Flüchtlinge selber erkämpft - mitgetragen von der überwältigenden Hilfsbereitschaft vieler Menschen. So sind die Flüchtlinge zu Geflüchteten geworden, sind von den Behandelten zu Handelnden geworden, während Europa seine Handlungsfreiheit verloren hat und nur noch reagiert.
Es ist - zumindest vorläufig - die Emanzipation der Geflüchteten von der Politik. Die Emanzipation vom Nationalstaat mit seinem Pässen, Visa und Grenzen. Die Emanzipation vom Geburtslotto. Die Emanzipation davon zu akzeptieren, dass die Welt so ist wie sie ist.