Notstand im Erstaufnahmelager
Mit offenen Armen wurden Flüchtlinge in den vergangenen Tagen in Deutschland empfangen, an Bahnhöfen in München, Dortmund oder Hamburg. Ein warmes Willkommen. Aber wie geht es dann für sie weiter? Unsere Reporterin Alena Jabarine hat sich als Flüchtling ausgegeben und mehrere Tage in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Hamburg-Harburg verbracht.
"Undercover" in einer Flüchtlingsunterkunft
Freitag, kurz vor Mitternacht, mischt sie sich unter die wartenden Flüchtlinge. "New, new, bist du neu?", wird sie von den Sicherheitsleuten gefragt. Und soll einen Zettel ausfüllen. Zeyna Mahameed nennt sie sich. Aus Gaza. Mittlerweile ist es drei Uhr morgens, die Menschen um sie herum sind alle gerade hier angekommen, müde von ihrer Flucht. Sie versuchen in den Gängen, in kleinen Räumen, im Treppenhaus Schlaf zu finden. Zwar liegen Matratzen auf dem Boden, aber nicht jeder hat eine Decke oder einen Schlafsack. Auch Babys und Kleinkinder sind dabei.
Viele Fragen, keine Antworten
Doch keiner scheint so richtig zu wissen, was passiert. Und wie es weiter geht. Denn am Wochenende sind alle Büros geschlossen, in der Aufnahmeeinrichtung sind nur Sicherheitsleute, keine Sozialarbeiter. Niemand wird registriert, es gibt auch keine Information darüber, wann damit angefangen wird. Alle Fragen, egal, ob man Bettbezug oder Seife benötigt, Schmerzen hat oder das Baby einen Arzt braucht - es sind die Sicherheitsleute, die am Wochenende entscheiden müssen, ob beispielsweise ein Krankenwagen gerufen wird - oder nicht.
Nach einer kurzen Nacht heißt es Schlange stehen für das Frühstück, mehr als zwei Stunden. Und dann wird das Essen knapp. Aber es bleibt ruhig, die Menschen verschenken untereinander ihr Brot - jeder gibt den anderen, was er gerade nicht isst.
Security statt Sozialarbeiter
Die Menschen sind sehr verständnisvoll, aber nach zwei Tagen ohne Informationen ist es schwer. Mahar Hourani aus Syrien ist Zahnarzt und mit seiner Frau und drei Kindern in der Erstaufnahmestelle untergekommen. "Die Security-Leute sind nicht geschult darin, uns zu helfen. Sie wissen nicht, wie sie gut mit Menschen umgehen können, ohne immer gleich wütend zu werden." Denn manche sind engagiert und hilfsbereit. Andere aber scheuchen die Menschen herum, als seien sie Tiere.
"Wir brauchen keine Sicherheitsleute, wir brauchen vor allem ausgebildete Mitarbeiter, die menschlich mit uns umgehen können", so Mahar Hourani weiter. "Wir brauchen Menschen, die verstehen, was uns in unserer Situation hilft. Denn das ist eine komplizierte Aufgabe."
Komplette Orientierungslosigkeit
Am Montag ist es soweit, die Lage sieht zuerst einmal gut aus, heute sind die Sozialarbeiter da, die Kleiderkammern geöffnet und auch die ärztliche Sprechstunde. Jetzt heißt es überall Schlange stehen, denn wenn man nicht vorne steht, kommt man nicht dran und wenn man nicht dran kommt, dann geht es nicht weiter. Und schon gegen 9 Uhr werden die Büros geschlossen: Zu voll, zu viel zu tun. Es herrscht komplette Orientierungslosigkeit.
Aber außer Schlange zu stehen kann man nichts tun, die Menschen sind irgendwie eingesperrt, können sich nicht bewegen. Sie haben Angst, sonst nicht zur Stelle zu sein, wenn sie etwas erledigen könnten. Denn es geht nicht weiter, ohne dass hier alles für die Registrierung getan wird. Warten also. Und weiter warten. Und die Planlosigkeit der Zuständigen sorgt für zusätzliches Chaos - das bedrückende Gefühl wird jeden Tag hier ein bisschen stärker.
Die Menschen in der Erstaufnahme werden in vielen Bereichen allein gelassen, so der Eindruck unserer Reporterin.
Anmerkung der Redaktion:
Selbstverständlich haben wir im Vorfeld dezidiert abgewogen, ob ein verdeckter Einsatz gerechtfertigt ist. Es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit über die Situationen in den Erstaufnahmelagern informiert wird. Die Hamburger Innenbehörde hatte dies monatelang verhindert. Durch unsere Recherche ist kein Schaden entstanden, im Gegenteil, kann sich jetzt jeder eine Meinung bilden. Die Kollegin hat sich für ihre verdeckte Recherche weder registrieren lassen, noch einen Asylantrag gestellt - sie hat sich lediglich am Eingang der der Zentralen Erstaufnahmestelle in Hamburg-Harburg angemeldet. Selbstverständlich hat sie auch keine Kleiderspenden oder den medizinischen Dienst in Anspruch genommen. Jeder Neuankömmling wurde aufgenommen, unsere Reporterin hat niemandem einen Platz weggenommen. Das gilt auch für das Essen. Einen Schlafplatz, geschweige denn ein Zimmer, hat sie nicht zugewiesen bekommen. Vielen hilfsbereiten Flüchtlingen war sie als alleinstehende Frau aufgefallen und nur deshalb bekam sie ein Bett in einem kleineren Zimmer, statt im Schlafsaal oder im Zelt. Als allein reisende Frau war sie in der Erstaufnahme eine Ausnahme - zu dieser Zeit gab es keine weitere allein reisende Frau in der Einrichtung. Es war noch ein weiteres Bett frei. Familien möchten sich in der Regel nicht zum Schlafen trennen, Mütter lassen ihre Kinder natürlich nicht allein zwischen Fremden. Der Beitrag kritisiert an keiner Stelle Helfer oder Ehrenamtliche. Er dokumentiert die Organisation. Machen Sie sich selbst ein Bild, ob Sie es so in Ordnung finden oder nicht.
Mit der Aktion "Hand in Hand für Norddeutschland", deren Partner in diesem Jahr der Paritätische Wohlfahrtsverband mit seiner Flüchtlingshilfe ist, möchte der NDR mit Berichten, Reportagen, Sendungen und Aktionen die Arbeit der Einrichtungen und die Schicksale von Betroffenen vorstellen, ins Bewusstsein des Publikums rücken und zum Spenden aufrufen: