Zuschauer betrachten Exponate in der Ausstellung "Entartete Musik. Eine Abrechnung", die als Gegenstück zur Ausstellung "Entartete Kunst" im Rahmen der Reichsmusik-Festwoche 1938 veranstaltet wurde. Undatierte Aufnahme. © picture-alliance / dpa | Ullstein

Die systematische Nazi-Jagd auf die Hamburger Swing-Jugend

Stand: 16.08.2021 14:45 Uhr

Sie hören Jazz und tanzen, statt im Gleichschritt zu marschieren: die Anhänger der Hamburger Swing-Jugend. "Undeutsch" finden das die Nazis und reagieren mit Härte. Am 18. August 1941 stimmt Goebbels brutalen "Sofort-Aktionen" zu.

von Dirk Hempel

Während der Nazi-Zeit hören viele Jugendliche lieber amerikanische Jazzmusik als uniformierten Dienst in der Hitlerjugend zu leisten. Sie treffen sich mit Freunden in Cafés, Kinos oder Eisdielen, feiern Partys und tanzen auf Swing-Konzerten. Eine Massenbewegung entsteht, die mit der offiziellen Jugenderziehung des Regimes nichts zu tun haben will. Hamburg mit seinem weltoffenen Hafen und einer anglophilen Kaufmannselite wird zur Hochburg dieser "Swings".

Bei den "Swings" ist der anglophile Lebensstil angesagt

Hamburger Swing-Clique bei einem Ausflug nach Sasel im Juli 1944.  Foto: Wolf Ritter
Lässig und nach englischem Vorbild gekleidet - eine Clique der Hamburger Swing-Jugend bei einem Ausflug in den 40er-Jahren.

Die Jugendlichen kultivieren in der Hansestadt einen an westlichen Vorbildern orientierten Lebensstil, geben sich lässig und international. Die Jungen tragen karierte Sakkos und weite Hosen nach englischer Mode oder feine Nadelstreifenanzüge, dazu Schuhe mit hellen Kreppsohlen. Ihre zurückgekämmten Haare reichen bis auf den Kragen. In der Tasche des hellen Staubmantels steckt gerne eine ausländische Zeitung. Regenschirm und Pfeife sind unverzichtbare Utensilien. Die Mädchen bevorzugen kurz geschnittene Kleider oder lange Hosen. Sie schminken sich, benutzen auffälligen Lippenstift und lackieren sich die Fingernägel. Sonnenbrillen mit weißem Gestell sind in Hamburg besonders beliebt.

Koffergrammofon und Jazzplatten sind immer dabei

Hamburger Swingfans 1940 vor einem Lokal © Barmbeker Schallarchiv
Die Hamburger Swing-Fans - hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1940 - trafen sich gern zum Tanzen und Musikhören.

Sie begrüßen einander mit "Swing Heil" und sprechen sich mit englischen Namen wie "Old-hot-Boy" oder "Swing Girl" an. Sie kennen sich zumeist aus dem Segel- oder Hockeyklub, manche auch aus der Kaufmannslehre. Die Bewegung geht durch alle Schichten, auch wenn die großbürgerlichen Jugendlichen aus den Elb-Vororten und den Villenvierteln an der Alster den Ton angeben.

In Eisdielen und Kinos, bei Hausfesten und in Tanzlokalen kommen sie zusammen. Auch die Eisbahn bei Planten un Blomen ist ein beliebter Treffpunkt. Immer dabei: das Koffergrammofon, das die Schallplatten von Benny Goodman und Duke Ellington, Artie Shaw und Nat Gonella spielt, selbst im Schwimmbad und im Park. Dazu wird getanzt, gesungen, gepfiffen und "gehottet".

Axel Springer singt zu Teddy Stauffer

Der schweizer Bandleader, Musiker und Manager mit seiner Kapelle bei der Fernsehsendung "Man müsste Klavier spielen können" von 1965.  Foto: Röhnert
Teddy Stauffer, hier 1965 mit Band in einer Fernsehsendung, tritt Anfang der 40er-Jahre oft in Hamburg auf.

Berühmte Jazz-Orchester gastieren schon seit den 1920er-Jahren in der Hansestadt, spielen etwa im Alsterpavillon, im Café Heinze an der Reeperbahn oder im Stadtparkcafé. Der Schweizer Bandleader Teddy Stauffer gilt in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg als Star, bei dessen Auftritten der Journalist und "Swing-Boy" Axel Springer gelegentlich mitsingt.

Nach 1939 kommen auch Orchester aus den besetzten Ländern in die Stadt. Von dort, aus Dänemark etwa oder Frankreich, stammen auch viele der Swing-Platten, die nach dem Kriegseintritt der USA in Deutschland nur noch schwer zu bekommen sind - mitgebracht von Fronturlaubern.

Swing gilt den Nazis als "entartet" und "undeutsch"

Innenansicht des Veranstaltungshauses Trocadero an den Großen Bleichen von 1940, einem Spielort des Swing in Hamburg. © Barmbeker Schallarchiv
Das "Trocadero" an den Großen Bleichen ist lange ein beliebter Treffpunkt der Swing-Jugend. 1943 wird es durch Bomben zerstört.

Für das NS-Regime ist der Lebensstil der eigentlich unpolitischen Swing-Jugend allerdings eine ungeheure Provokation, ganz besonders nach Kriegsbeginn. Swing-Musik gilt als "entartet" und "undeutsch". Den "Swings" wird eine "gefährliche staatsfeindliche Einstellung" unterstellt, weil sie sich nicht der "Gemeinschaftserziehung" beugen würden. In Hamburg werden sie deshalb von der Gestapo beobachtet. Polizei und Hitlerjugend führen Kontrollen durch, verhaften "Swings", verhängen Jugendarreste und sogar Schulverweise.

Die "Swings" begegnen den Mächtigen mit Witz

Aber die "Swing-Boys" lassen sich nicht alles gefallen. So kommt es immer wieder zu Prügeleien mit dem Streifendienst der Hitlerjugend. Die Jugendlichen führen sogar Aktionen durch: an Churchills Geburtstag etwa einen Marsch in die Innenstadt - einen Fuß auf dem Kantstein, einen Fuß auf der Straße. Sie singen dabei "He's a jolly good fellow" und die Hymne der Swing-Bewegung, den "Tiger-Rag". Noch im Sommer 1941 inszenieren "Swings" am Hauptbahnhof eine Persiflage auf die Empfänge der NS-Herrscher, die Ankunft des "Reichstatistenführers": Zwei Jugendliche im dunklen Anzug mit steifem Hut entsteigen unter dem Jubel von 60 Oberschülern und im Blitzlichtgewitter dem Schnellzug aus Paris, schreiten über einen roten Teppich und fahren mit der Pferde-Droschke zum Alsterpavillon.

Goebbels Befehl führt zu Verhaftungen und Misshandlungen

Im Hamburger Alsterpavillon tritt 1941 die John Kristel Band vor Fans auf. © Barmbeker Schallarchiv
Im August 1941 beendet die Gestapo ein Konzert des Swing-Musikers John Kristel im Alsterpavillon und verhaftet zahlreiche Jugendliche.

Deshalb beginnt das NS-Regime 1941 in Hamburg seinen Kampf gegen die unangepassten Jugendlichen zu intensivieren. Von einer Razzia im März 1940kennt man bereits die Namen und Adressen von mehr als 400 Hamburger "Swings". Nachdem die Polizei aus der Hansestadt wiederholt nach Berlin von der "Swing- und Hot-Seuche" berichtet hat, plädiert ein Referent des Reichspropagandaministeriums am 18. August 1941 bei Minister Goebbels für "Sofort-Aktionen" gegen "kriminelle" und "degenerierte" Jugendliche, damit endlich wieder "normale Verhältnisse" hergestellt werden können. Goebbels verlangt daraufhin von der Gestapo drastische Maßnahmen, die umgehend mit der brutalen Unterdrückung der Hamburger "Swing-Heinis" beginnt.

In den folgenden Wochen werden bei Razzien etwa im Alsterpavillon dieverse Jazz-Konzerte gesprengt. Hunderte Jugendliche werden von der Gestapo verhaftet, im Polizei-Gefängnis Fuhlsbüttel festgehalten und oftmals auch misshandelt.

Himmler ordnet "brutales Durchgreifen" an

Weil jedoch der dauerhafte "Erfolg" dieser Aktionen in Hamburg ausbleibt und sich immer noch viele Jugendliche zu Swing-Partys treffen, bekundet Reichsjugendführer Artur Axmann im Januar 1942 gegenüber Heinrich Himmler, dem Chef der Polizei, dass er "die sofortige Unterbringung dieser Menschen in ein Arbeitslager für angebracht" halte. Himmler befiehlt der Gestapo daraufhin, "brutal durchzugreifen", "das ganze Übel muss radikal ausgerottet werden", "mit schärfsten Mitteln". Für die "Rädelsführer" soll das Haft im Konzentrationslager und Prügel bedeuten, für die übrigen verschärften Dienst in der Hitlerjugend wie auch Ermittlungen gegen Eltern und Lehrer.  

Dutzende "Swings" kommen in Konzentrationslager

Einige Jugendliche entgehen der Haft, weil sie sich als Spitzel für die Gestapo verpflichten, andere werden als Soldaten an die Front geschickt. Insgesamt aber werden in den folgenden Monaten mehr als 300 jugendliche Swing-Fans in Hamburg verhaftet. Dutzende werden in "Arbeitserziehungslager" und Konzentrationslager gesperrt.

Der Hamburger Swing-Liebhaber Günter Discher vor seiner Plattensammlung (Aufnahme von 1998). © dpa Foto: Oliver Soulas
Der Hamburger Swing-Liebhaber Günter Discher wird als 18-Jähriger ins KZ gesperrt. Bis zu seinem Tod 2012 sammelt er weiter Swing-Platten.

Unter ihnen ist etwa der 18-jährige Kaufmannslehrling Günter Discher: Er hatte sich Swing-Platten aus dem besetzten Dänemark schicken lassen und verkaufte sie. Wegen "zersetzenden und staatsabträglichen Treibens" kommt er ins Jugend-KZ Moringen bei Göttingen und muss mit anderen "Swing-Boys" Zwangsarbeit in einer unterirdischen Munitionsfabrik leisten. Er wird lebenslang an den Folgen der Haft leiden.

Swing-Mädchen wie die 14-jährige Eva Rademacher und die 17-jährige Ursula Nielsen werden in das Außenlager "Uckermark" des KZ Ravensbrück gesperrt, wo sie hungern müssen und gefoltert werden.

Swing zwischen Ruinen

Trotz der rigiden Maßnahmen kann das NS-Regime die Swing-Jugend in Hamburg und anderen norddeutschen Städten wie Bremen oder Rostock allerdings nicht vollends zerschlagen. Bereits 1944 bilden sich erneut Cliquen und Klubs in Hamburg, die sich heimlich treffen, Ausflüge veranstalten, Platten tauschen. Doch erst nach dem Ende des Krieges können sie unbehelligt ihre Musik hören. So trifft auch Günter Discher nach seiner Befreiung aus dem KZ im Mai 1945 in Hamburg-Eimsbüttel auf alte Freunde, die zwischen den Trümmern Schallplatten hören und zur Musik von Teddy Stauffer tanzen.

Weitere Informationen
Musiker und Gäste auf einer Swing-Veranstaltung am 2. März 1940 im Hamburger Curiohaus © Otto Bender Foto: Otto Bender

Erster großer Nazi-Schlag gegen die Hamburger Swing-Jugend

Hamburg ist eine Hochburg des Swing, als die Nazis ab dem 2. März 1940 ihre Jagd auf die jungen Swing-Fans systematisieren. mehr

Tanzszene aus dem Hollywood Film Swing Kids von 1993. © picture alliance / United Archives/IFTN

Der Swing lebt in Hamburg wieder auf

Schon in den 30er- und 40er-Jahren haben Hamburger Jugendliche zu Swing-Musik "gehottet". Heute tanzt in Hamburg wieder eine lebendige Lindy-Hop- und Balboa-Szene. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal 18:00 Uhr | 23.01.2019 | 18:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Hamburger Geschichte

Mehr Geschichte

Schriftsteller Thomas Mann auf einer undatierten Aufnahme © picture-alliance / dpa Foto: Bifab

Thomas Mann: 100 Jahre "Der Zauberberg"

Für die "Buddenbrooks" erhielt Thomas Mann den Literaturnobelpreis. Sein Werk "Der Zauberberg" wird jetzt 100 Jahre alt. mehr

Norddeutsche Geschichte

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?