Die systematische Nazi-Jagd auf die Hamburger Swing-Jugend
Sie hören Jazz und tanzen, statt im Gleichschritt zu marschieren: die Anhänger der Hamburger Swing-Jugend. "Undeutsch" finden das die Nazis und reagieren mit Härte. Am 18. August 1941 stimmt Goebbels brutalen "Sofort-Aktionen" zu.
Während der Nazi-Zeit hören viele Jugendliche lieber amerikanische Jazzmusik als uniformierten Dienst in der Hitlerjugend zu leisten. Sie treffen sich mit Freunden in Cafés, Kinos oder Eisdielen, feiern Partys und tanzen auf Swing-Konzerten. Eine Massenbewegung entsteht, die mit der offiziellen Jugenderziehung des Regimes nichts zu tun haben will. Hamburg mit seinem weltoffenen Hafen und einer anglophilen Kaufmannselite wird zur Hochburg dieser "Swings".
Bei den "Swings" ist der anglophile Lebensstil angesagt
Die Jugendlichen kultivieren in der Hansestadt einen an westlichen Vorbildern orientierten Lebensstil, geben sich lässig und international. Die Jungen tragen karierte Sakkos und weite Hosen nach englischer Mode oder feine Nadelstreifenanzüge, dazu Schuhe mit hellen Kreppsohlen. Ihre zurückgekämmten Haare reichen bis auf den Kragen. In der Tasche des hellen Staubmantels steckt gerne eine ausländische Zeitung. Regenschirm und Pfeife sind unverzichtbare Utensilien. Die Mädchen bevorzugen kurz geschnittene Kleider oder lange Hosen. Sie schminken sich, benutzen auffälligen Lippenstift und lackieren sich die Fingernägel. Sonnenbrillen mit weißem Gestell sind in Hamburg besonders beliebt.
Koffergrammofon und Jazzplatten sind immer dabei
Sie begrüßen einander mit "Swing Heil" und sprechen sich mit englischen Namen wie "Old-hot-Boy" oder "Swing Girl" an. Sie kennen sich zumeist aus dem Segel- oder Hockeyklub, manche auch aus der Kaufmannslehre. Die Bewegung geht durch alle Schichten, auch wenn die großbürgerlichen Jugendlichen aus den Elb-Vororten und den Villenvierteln an der Alster den Ton angeben.
In Eisdielen und Kinos, bei Hausfesten und in Tanzlokalen kommen sie zusammen. Auch die Eisbahn bei Planten un Blomen ist ein beliebter Treffpunkt. Immer dabei: das Koffergrammofon, das die Schallplatten von Benny Goodman und Duke Ellington, Artie Shaw und Nat Gonella spielt, selbst im Schwimmbad und im Park. Dazu wird getanzt, gesungen, gepfiffen und "gehottet".
Axel Springer singt zu Teddy Stauffer
Berühmte Jazz-Orchester gastieren schon seit den 1920er-Jahren in der Hansestadt, spielen etwa im Alsterpavillon, im Café Heinze an der Reeperbahn oder im Stadtparkcafé. Der Schweizer Bandleader Teddy Stauffer gilt in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg als Star, bei dessen Auftritten der Journalist und "Swing-Boy" Axel Springer gelegentlich mitsingt.
Nach 1939 kommen auch Orchester aus den besetzten Ländern in die Stadt. Von dort, aus Dänemark etwa oder Frankreich, stammen auch viele der Swing-Platten, die nach dem Kriegseintritt der USA in Deutschland nur noch schwer zu bekommen sind - mitgebracht von Fronturlaubern.
Swing gilt den Nazis als "entartet" und "undeutsch"
Für das NS-Regime ist der Lebensstil der eigentlich unpolitischen Swing-Jugend allerdings eine ungeheure Provokation, ganz besonders nach Kriegsbeginn. Swing-Musik gilt als "entartet" und "undeutsch". Den "Swings" wird eine "gefährliche staatsfeindliche Einstellung" unterstellt, weil sie sich nicht der "Gemeinschaftserziehung" beugen würden. In Hamburg werden sie deshalb von der Gestapo beobachtet. Polizei und Hitlerjugend führen Kontrollen durch, verhaften "Swings", verhängen Jugendarreste und sogar Schulverweise.
Die "Swings" begegnen den Mächtigen mit Witz
Aber die "Swing-Boys" lassen sich nicht alles gefallen. So kommt es immer wieder zu Prügeleien mit dem Streifendienst der Hitlerjugend. Die Jugendlichen führen sogar Aktionen durch: an Churchills Geburtstag etwa einen Marsch in die Innenstadt - einen Fuß auf dem Kantstein, einen Fuß auf der Straße. Sie singen dabei "He's a jolly good fellow" und die Hymne der Swing-Bewegung, den "Tiger-Rag". Noch im Sommer 1941 inszenieren "Swings" am Hauptbahnhof eine Persiflage auf die Empfänge der NS-Herrscher, die Ankunft des "Reichstatistenführers": Zwei Jugendliche im dunklen Anzug mit steifem Hut entsteigen unter dem Jubel von 60 Oberschülern und im Blitzlichtgewitter dem Schnellzug aus Paris, schreiten über einen roten Teppich und fahren mit der Pferde-Droschke zum Alsterpavillon.
Goebbels Befehl führt zu Verhaftungen und Misshandlungen
Deshalb beginnt das NS-Regime 1941 in Hamburg seinen Kampf gegen die unangepassten Jugendlichen zu intensivieren. Von einer Razzia im März 1940kennt man bereits die Namen und Adressen von mehr als 400 Hamburger "Swings". Nachdem die Polizei aus der Hansestadt wiederholt nach Berlin von der "Swing- und Hot-Seuche" berichtet hat, plädiert ein Referent des Reichspropagandaministeriums am 18. August 1941 bei Minister Goebbels für "Sofort-Aktionen" gegen "kriminelle" und "degenerierte" Jugendliche, damit endlich wieder "normale Verhältnisse" hergestellt werden können. Goebbels verlangt daraufhin von der Gestapo drastische Maßnahmen, die umgehend mit der brutalen Unterdrückung der Hamburger "Swing-Heinis" beginnt.
In den folgenden Wochen werden bei Razzien etwa im Alsterpavillon dieverse Jazz-Konzerte gesprengt. Hunderte Jugendliche werden von der Gestapo verhaftet, im Polizei-Gefängnis Fuhlsbüttel festgehalten und oftmals auch misshandelt.
Himmler ordnet "brutales Durchgreifen" an
Weil jedoch der dauerhafte "Erfolg" dieser Aktionen in Hamburg ausbleibt und sich immer noch viele Jugendliche zu Swing-Partys treffen, bekundet Reichsjugendführer Artur Axmann im Januar 1942 gegenüber Heinrich Himmler, dem Chef der Polizei, dass er "die sofortige Unterbringung dieser Menschen in ein Arbeitslager für angebracht" halte. Himmler befiehlt der Gestapo daraufhin, "brutal durchzugreifen", "das ganze Übel muss radikal ausgerottet werden", "mit schärfsten Mitteln". Für die "Rädelsführer" soll das Haft im Konzentrationslager und Prügel bedeuten, für die übrigen verschärften Dienst in der Hitlerjugend wie auch Ermittlungen gegen Eltern und Lehrer.
Dutzende "Swings" kommen in Konzentrationslager
Einige Jugendliche entgehen der Haft, weil sie sich als Spitzel für die Gestapo verpflichten, andere werden als Soldaten an die Front geschickt. Insgesamt aber werden in den folgenden Monaten mehr als 300 jugendliche Swing-Fans in Hamburg verhaftet. Dutzende werden in "Arbeitserziehungslager" und Konzentrationslager gesperrt.
Unter ihnen ist etwa der 18-jährige Kaufmannslehrling Günter Discher: Er hatte sich Swing-Platten aus dem besetzten Dänemark schicken lassen und verkaufte sie. Wegen "zersetzenden und staatsabträglichen Treibens" kommt er ins Jugend-KZ Moringen bei Göttingen und muss mit anderen "Swing-Boys" Zwangsarbeit in einer unterirdischen Munitionsfabrik leisten. Er wird lebenslang an den Folgen der Haft leiden.
Swing-Mädchen wie die 14-jährige Eva Rademacher und die 17-jährige Ursula Nielsen werden in das Außenlager "Uckermark" des KZ Ravensbrück gesperrt, wo sie hungern müssen und gefoltert werden.
Swing zwischen Ruinen
Trotz der rigiden Maßnahmen kann das NS-Regime die Swing-Jugend in Hamburg und anderen norddeutschen Städten wie Bremen oder Rostock allerdings nicht vollends zerschlagen. Bereits 1944 bilden sich erneut Cliquen und Klubs in Hamburg, die sich heimlich treffen, Ausflüge veranstalten, Platten tauschen. Doch erst nach dem Ende des Krieges können sie unbehelligt ihre Musik hören. So trifft auch Günter Discher nach seiner Befreiung aus dem KZ im Mai 1945 in Hamburg-Eimsbüttel auf alte Freunde, die zwischen den Trümmern Schallplatten hören und zur Musik von Teddy Stauffer tanzen.