Eine Frau sitzt erschöpft auf einem Sofa © Colourbox Foto: Aleksandr
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AUDIO: (117) Long Covid: Das Rätsel nach der Pandemie (75 Min)

Corona-Podcast: Post Covid - noch immer eine Blackbox

Stand: 08.05.2023 06:00 Uhr

Laut Weltgesundheitsorganisation leiden etwa sechs Prozent der mit Corona infizierten Menschen an Langzeitfolgen. Das Risiko ist unter dem Einfluss der Omikron-Variante gesunken. Doch die adäquate Versorgung Betroffener bleibt ein Problem.

von Ines Bellinger

Dr. med. Judith Bellmann-Strobl, Oberärztin an der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie am Max-Delbrück-Centrum Berlin © privat
Bellmann-Strobl: Genaue Betroffenenzahlen für Post Covid und Long Covid in Deutschland gibt es nicht.

Die Neuroimmunologin Judith Bellmann-Strobl ist in einer Sonderfolge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update zu Gast. In ihrer Berliner Spezialambulanz, die das Max-Delbrück-Centrum und die Charité gemeinsam betreiben, sieht sie zehn bis 15 Patienten pro Woche, die dort die Diagnose Long Covid oder Post Covid bekommen. Wie viele Menschen in Deutschland mit länger währenden und schwerwiegenden Folgen einer Corona-Infektion zu kämpfen haben, ist unklar. Denn: "Genaue Zahlen gibt es in Deutschland nicht. Aber aus wissenschaftlichen Publikationen im europäischen Kontext lässt sich schließen, dass rund zehn Prozent nach einer Covid-Erkrankung mit einer verlängerten Symptomatik zu kämpfen haben."

Unterschieden wird dabei zwischen den Phänomenen Long Covid, bei dem die Symptome auch vier Wochen nach einer Corona-Infektion nicht abgeklungen oder erneut aufgetreten sind, und Post Covid, bei dem Beschwerden länger als drei Monate anhalten.

Risiko für Langzeitfolgen bei Omikron gesunken

Konsens in der Forschung ist inzwischen, dass bei der seit Anfang 2022 vorherrschenden Omikron-Variante das Risiko für Langzeitfolgen deutlich gesunken ist, laut einer Schweizer Studie um 50 Prozent im Vergleich zum Wildtyp - der zu Beginn der Pandemie aufgetretenen Virusvariante. "Das heißt aber nicht, dass Long Covid und Post Covid seltener werden", sagt Bellmann-Strobl. "Mit dem Wildtyp waren wenige Menschen infiziert. Omikron ist dagegen durch die Bevölkerung gefegt." Die absoluten Infektionszahlen für die Omikron-Variante waren deutlich höher und damit auch die Zahl derer, die danach mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben.

Bis zu 200 verschiedene Symptome bei Long Covid / Post Covid

Aber worunter leiden Menschen, die sich auch nach einer Sars-CoV-2-Infektion einfach nicht gesund fühlen? Long Covid und Post Covid sind multisystemische Beschwerden, das Krankheitsbild ist komplex. Bis zu 200 mögliche Symptome listet die WHO auf, darunter extreme Müdigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Atemnot oder auch anhaltende Geruchs- und Geschmacksstörungen.

"Patienten wenden sich mit großer Verzweiflung an uns, weil sie nirgendwo eine Anlaufstelle finden, wo sie sich adäquat betreut oder ernst genommen fühlen." Judith Bellmann-Strobl, Neuroimmunologin

Eine Diagnose ist schwierig. Verlässliche Biomarker, die man etwa in einer Blutuntersuchung erkennen könnte, gibt es nicht. Der Frage, ob Patienten an Covid-Folgen leiden, nähern sich Mediziner deshalb mit Differenzialdiagnostik an - indem sie ausschließen, dass andere Krankheiten vorliegen, etwa eine Tumorerkrankung oder eine Polyneuropathie (Missempfindungen und Schmerzen).

Leitsymptom anhaltende Erschöpfung

Eines der Kardinalsymptome bei postviralen Erkrankungen tritt auch vordergründig bei Long Covid und Post Covid auf: Fatigue, eine anhaltende und sehr belastende Erschöpfung. Bellmann-Strobl ist auf Multiple Sklerose spezialisiert und kennt die auch damit häufig einhergehenden Ausprägungen des Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS). "CFS-Beschwerden können sich langsam bessern, wobei wir da von einer Rekonvaleszenz über Monate bis zu zwei Jahren sprechen", sagt sie. Wer dagegen das Vollbild von ME/CFS entwickelt, habe wenig Aussicht auf Linderung über die Zeit, sagt sie. In Bellmann-Strobls Praxis trifft das etwa auf die Hälfte der Patienten zu, Studien gehen von einem Prozent aller von Post Covid Betroffenen aus.

Mehr Frauen als Männer betroffen

Manifestiert hat sich im Verlauf der Pandemie, dass mehr Frauen als Männer unter Long Covid und Post Covid leiden, sagt Bellmann-Strobl. Das ist ein bekannter Befund auch von anderen autoimmunbedingten Erkrankungen: "Da spielen Aspekte wie der Hormonhaushalt eine Rolle, aber auch dass das Immunsystem von Frauen reaktiver ist und sie gesundheitliche Einschränkungen stärker wahrnehmen als Männer."

Aber auch das soziokulturelle Umfeld beeinflusst vermutlich, wer eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, langfristig zu erkranken. So waren in Mecklenburg-Vorpommern laut einer Datenanalyse der AOK Nordost Erzieherinnen und Erzieher am stärksten von länger anhaltenden Beschwerden nach Corona-Infektionen betroffen. Mitte April gab die Krankenkasse an, dass etwa 1,1 Prozent aller AOK-Versicherten dieser Berufsgruppe im Land seit Pandemie-Beginn wegen Long Covid krankgeschrieben waren.

Umfassende Therapie derzeit nicht möglich

Behandelt werden können derzeit nur einzelne Beschwerden, eine allumfassende Therapie ist aufgrund der Vielzahl von Symptomen nicht möglich. Gezeigt hat sich laut Bellmann-Strobl, dass eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus auch das Risiko für Langzeitfolgen senkt und dass eine Impfung in eine Long-Covid-Symptomatik hinein vor allem nicht zu einer Verschlechterung des Zustandes führt.

Studie: Paxlovid verringert Long-Covid-Risiko

Auch Paxlovid verringert laut einer US-Studie die Wahrscheinlichkeit, an Long Covid zu erkranken. "Es ist ein sehr gut wirksames antivirales Medikament, das die Erkrankungsdauer verkürzt und die Schwere der Erkrankung reduziert", erklärt Bellmann-Strobl. In ihrer Ambulanz werde es regelmäßig bei Risikopatienten eingesetzt, die bereits an Long Covid leiden und erneut an Covid-19 erkranken. Wegen Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln und Nebenwirkungen wie etwa Durchfall, Geschmacksstörungen. Kopfschmerzen und Erbrechen sei es jedoch nicht zur Prävention für Long Covid geeignet.

Pacing managt Energiereserven - Blutwäsche hilft nur vorübergehend

Für eine gute Strategie gegen Beschwerden hält Bellmann-Strobl das Pacing. Dieses Konzept ist aus der Behandlung des Chronischen Erschöpfungssyndroms bekannt und bedeutet, dass Betroffene sich mit ihrem Zustand arrangieren und lernen müssen, mit ihren geringeren Energiereserven zu haushalten.

Das Prinzip der Blutwäsche (Immunadsorption) funktioniere hingegen nur bedingt. Zwar würden Antikörper gut aus dem Blut von Patienten gefiltert, allerdings gehe die Wirkung nach etwa drei Monaten wieder zurück. Verantwortlich dafür sind die B-Zellen des Immunsystems, die immer neue Antikörper bilden. Der Kreislauf kann nur unterbrochen werden, wenn auch die B-Zellen mit Medikamenten aus dem Körper entfernt werden, ein Verfahren, das bereits bei anderen Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose erprobt wurde.

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Autoimmune Prozesse und chronische Entzündungen beteiligt

Warum Patienten nach einer akuten Covid-Infektion lang anhaltende Symptome entwickeln und wie sie sich ausprägen, dazu gibt es nach mehr als drei Jahren Pandemie einen ganzen Strauß an Hypothesen. Es zeichne sich ab, dass autoimmune Prozesse die Erkrankung federführend voranbringen, dass chronische Entzündungen eine wichtige Rolle spielen und dies eine Kaskade von Folgeproblemen auslöse, sagt Bellmann-Strobl. "Aber insgesamt ist Post Covid immer noch eine Blackbox." Das grundlegende Verständnis für die Erkrankung fehle, dafür brauche es noch Zeit und wissenschaftliche Arbeit.

Lauterbach stellt 100 Millionen Euro in Aussicht

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat Anfang des Jahres 100 Millionen Euro für die Forschung zur Long-Covid-Versorgung in Aussicht gestellt. Nicht nur die Neuroimmunologin Bellmann-Strobl wartet händeringend auf mehr Mittel. "Wir brauchen mehr klinische Studien, um Evidenz für Therapieoptionen zu generieren", sagt sie. Dem Bedarf und den Bedürfnissen erkrankter Menschen werde man derzeit nicht gerecht. "Patienten wenden sich mit großer Verzweiflung an uns, weil sie nirgendwo eine Anlaufstelle finden, wo sie sich adäquat betreut oder ernst genommen fühlen", sagt sie.

Bellmann-Strobl: Immenser Erkenntnisgewinn für postvirale Erkrankungen

Um den Ansturm auf ihre Praxis zu bewältigen, werden nur vorab befragte und ausgewählte Patienten vorgelassen. "Es ist tragisch: Wir haben Leute in der Sprechstunde, die sind mit Mitte 40 berentet, bei manchen geht es bereits ins dritte Behandlungsjahr." Aus rein wissenschaftlicher Sicht habe die Corona-Pandemie einen immensen Erkenntnisgewinn zu postviralen Erkrankungen gebracht. Aber es gehe nun darum, sich für die Zukunft gut aufzustellen, denn: "Das kann wiederkommen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Das Coronavirus-Update von NDR Info | 08.05.2023 | 06:00 Uhr

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