Die Goldenen Zitronen blicken zurück - ohne Nostalgie
1984 haben Schorsch Kamerun und Ted Gaier Die Goldenen Zitronen gegründet. Von den Fun-Punk-Anfängen ist inzwischen wenig übrig. Eine Werkschau zeichnet den Weg der Band jetzt nach. "Inventur" heißt sie - und beinhaltet drei LPs.
Eine Auslese aus 13 Alben und vier Jahrzehnten. Wie sind die Goldenen Zitronen das angegangen? "Eigentlich relativ unsentimental. "Also, wir haben uns da halt so durchgehört und in einer Listening-Session waren wir auch der Meinung, was das Frühwerk anbelangt, dass das ja auch gar nicht so geile Musik ist", sagt Ted Gaier. Mitgründer Schorsch Kamerun pflichtet ihm bei: "Was für ein Gröhler ich war und was für ein maskulines Fußballchor-brüllendes Vögelchen, Nachtigallchen ich auch war. Vieles mag ich wirklich nicht."
Auch "Jugendsünden" gehören zur Inventur
Aber bei dieser "Inventur" geht es ja nicht um persönliche Vorlieben von heute. Die "Goldies" wollen ihre komplette Geschichte erzählen und dazu gehören auch diese vermeintlichen "Jugendsünden". Die wollen sie aber wenigstens richtig einordnen - die punkige Bierseligkeit der ersten Jahre habe die Band mehr persifliert als zelebriert.
"Punk war musikalisch im Grunde genommen schon dead oder 'post', wie man sagt, als wir das gemacht haben. 1984 war Punk eigentlich erledigt und hat kaum noch jemanden groß irritiert. Es gibt ja so ein Stück von uns 'Für immer Punk', und das war schon ein Witz im Witz", erklärt Schorsch Kamerun.
Erst spaßige Ironie ...
Statt in Punk-Uniform mit Doc Martens-Stiefeln und Nietenjacke spielten sie damals in Damenblusen und Schlafanzughosen, ließen sich für ihre Songs nicht nur von Punk, sondern auch von Glamrock, Rockabilly, Country, sogar Schlager inspirieren. Mal mehr oder weniger ernsthaft angeeignet, dann wieder deftig verballhornt.
Mit der spaßigen Ironie war irgendwann Schluss: "Die Maueröffnung am 9. November 1989 in Berlin fühlte sich überhaupt nicht toll an", erinnert sich Gaier. Vielmehr habe es schon damals Vorboten gegeben, dass da etwas ins Rutschen gerate und nach rechts abgleite. "Also ich weiß nur das erste Bild, was ich hatte, als wir an der Friedrichstraße über die Grenze in die DDR gingen: Da war eine Horde von Skinheads, die sang eben wirklich wie in dem Böhse Onkelz-Song 'deutsche Frauen, deutsches Bier, Schwarz-Rot-Gold, wir stehen zu dir'", erzählt Gaier.
... dann ernsthafter und politischer
Den zunehmenden Rassismus, die rechtsextreme Gewalt im wiedervereinigten Deutschland wollten die Goldenen Zitronen klar und deutlich kommentieren. Mit Songs wie "80 Millionen Hooligans" oder "Bürger von Hoyerswerda" wurden nicht nur die Texte politischer, auch ihre musikalische Sprache veränderte sich. Die Musiker beschäftigten sich mit anderen Genres, wie Schorsch Kamerun erläutert: "Mit Hip-Hop, ohne jetzt rappen zu wollen oder mit Folk oder mit Minimal Klassik konnte man einfach längere Texte auf Musik machen und hatte eben das Parolenhafte von Punk-Songs einfach überwunden."
Neuer Sound, verändertes Arbeiten
Der Sound der Band wurde schließlich elektronischer, komplexer, tranciger, die Texte abstrakter, experimenteller, poetischer. Die Gesellschaftskritik blieb. Bis heute. Es geht um Sexismus und Rassismus, Gentrifizierung oder auch die Ausbeutung durch den globalen Kapitalismus.
Auch das Arbeiten der "Goldies" veränderte sich. "Es gab eben nicht mehr den Songwriter, der zuhause auf der Klampfe irgendetwas macht und das dann den anderen vorstellt", sagt Gaier. In den 2000er-Jahren spätestens habe die Band die Songs kollektiv aus Sessions entwickelt, durch ein Einfach-drauf-los-Spielen. "Ein bisschen vielleicht wie so Krautrockbands aus den 1970er-Jahren - Can, Faust oder so."
Schorsch Kamerun: "Wir sind weiterhin frisch"
Die Band hat sich immer wieder leicht neu formiert, aber seit 2001 herrscht "Kündigungsstopp". Zur Crew gehören neben Gaier und Kamerun: der Multiinstrumentalist und Musikproduzent Mense Reents, Thomas Wenzel, Mitbegründer der Hamburger-Schule-Band Die Sterne. Der Musikmanager Stephan Rath am Schlagzeug, zweiter Schlagzeuger und Triangel-Spieler ist Enno Palucca. Die Goldenen Zitronen laden dazu immer wieder Gastmusiker ein - und vor allem Gastmusikerinnen, um dem Testosteron-Überschuss in der Band etwas entgegenzusetzen.
Die Zitronen sind für Schorsch Kamerun ein Gefährt, "wo viele aufsteigen können. Wie so ein Club, den es immer noch gibt und der immer noch funktioniert, ohne jetzt so retro zu sein und immer das machen zu müssen, für was er steht. Wir stehen eben für Veränderung und für die jeweilige Überprüfung von Gegenwart. Und deswegen sind wir ja irgendwie bis im Moment weiterhin frisch."
Zeit für eine neue Platte?
Wer heutig sein, frisch und relevant bleiben will, muss sich immer wieder selbst hinterfragen. Das ist der Anspruch der Musiker. Die Goldenen Zitronen sind keine Nostalgiker. Die Arbeit an der Werkschau und der Jubiläums-Tour lassen sie deshalb nicht schwelgen, sondern darüber nachdenken, was kommen soll: "Wie es sich jetzt gerade so anfühlt, habe ich das Gefühl, dass es auf alle Fälle mal wieder Zeit für eine neue Platte ist", sagt Gaier. Auch Kamerun nennt es "Ansage und Drohung für Euch da draußen", wenn er verkündet: "Wir probieren es noch ab und an mal wieder."
Konzert auf Kampnagel am 19. Dezember
Jetzt gibt es aber erst mal die Werkschau der Goldenen Zitronen mit drei Vinyl-Alben plus 24 Tourplakaten. Und eine Tour gibt es selbstverständlich auch zum Jubiläum. Mit dabei sind ehemalige Band-Mitglieder und Kollaborateur:innen - wie Michaela Melian, Melissa Logan von Chicks on Speed oder Sophia Kennedy und Camille O. Die "Zauberhafte Ballnacht mit den Goldenen Zitronen und ihren Genoss:innen" tourt durch Deutschland, am 19. Dezember auf Kampnagel in Hamburg .