John Eliot Gardiner rührt in Elbphilharmonie zu Tränen
Der Dirigent John Eliot Gardiner hat am Samstag mit seinen neuen Ensembles The Constellation Choir und The Constellation Orchestra in der Elbphilharmonie ein Debüt gefeiert - dabei schien es vor kurzem, als sei seine Karriere bereits beendet.
Der Konzertabend startet holprig. Der Flugverkehr in Großbritannien war durch einen Sturm stark beeinträchtigt. Erst wurde ein Flug gestrichen, dann war der zweite verspätet, so dass die aus London kommenden Ensembles nur noch eine kurze Anspielprobe im Saal hatten und die Elbphilharmonie alle Besucherinnen und Besucher während der Wartezeit auf ein Getränk ins Foyer einlud.
Konsequenter, kompromissloser Ausdruck
Mit 45 Minuten Verspätung beginnt schließlich das vielbeachtete Konzert, zu dem sogar die New York Times angereist ist. Auch mit seinen neugegründeten Ensembles geht John Eliot Gardiner den Weg weiter, den er in den letzten Jahren mit seinen ehemaligen Ensembles Monteverdi Choir und English Baroque Soloists eingeschlagen hatte. Er dringt noch konsequenter, noch kompromissloser zum Ausdruck der Musik vor. Sowohl in der Weihnachtsmesse von Marc-Antoine Charpentier als auch in der Musik von Johann Sebastian Bach. In der Kantate "Schwingt freudig Euch empor" formt er mit seinem phänomenalen Orchester einen tänzerischen Schwung. Bei der Weihnachts-Kantate "Unser Mund sei voll Lachens" ist in den Koloraturen des Chores tatsächlich ein freudiges Lachen zu hören.
Auf der anderen Seite gibt es an diesem Abend auch viele sehr intime Momente - wie im Duett von Sopran und Alt über das Adventslied "Nun komm der Heiden Heiland", von Marie Luise Werneburg und Eline Welle hinreißend gesungen. Die beiden Sängerinnen stehen ganz nahe bei Gardiner, er wirkt beseelt, scheint die Musik beim Dirigieren mit den Händen zu streicheln.
Glaubwürdige Entschuldigung für Ohrfeige
Wenn man ihn so sieht, fällt es schwer, sich die anderen Seiten von Gardiner vorzustellen - seine Launen und seinen Jähzorn, von dem Musikerinnen und Musiker berichten, seine Wutausbrüche, für die er berüchtigt ist oder zumindest war. Einer dieser Ausbrüche ist wohl im August 2023 in einer Ohrfeige für einen Sänger eskaliert. Er sei selbst total geschockt gewesen von dem, was er getan hatte, hat Gardiner kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bekannt. Seine Karriere schien am Ende zu sein. Er hat um Entschuldigung gebeten, Konzerte abgesagt und sich einer Therapie unterzogen.
Seine Reue wirkt aufrichtig. Wohl auch deshalb haben ihm viele nach seiner selbst auferlegten Pause wieder das Vertrauen geschenkt. Rund achtzig Prozent der Mitglieder von The Constellation Choir and Orchestra sind Musikerinnen und Musiker, die aus seinen vorigen Ensembles mitgekommen sind. Es wird Gardiners Aufgabe sein, dieses Vertrauen zu rechtfertigen und zu beweisen, dass er sich geändert und besser im Griff hat. Wenn er sich noch einmal so daneben benehmen sollte, wie bei der Ohrfeige, sollte er "nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen werden", hat seine langjährige Konzertmeisterin der ZEIT gesagt.
"Es ist ein Ros' entsprungen" trifft ins Herz
Sichtlich bewegt ist der 81-jährige Brite am Schluss. "Ich möchte Ihnen allen danken, liebes Publikum, dass Sie heute gekommen sind und meine Ensembles und mich so herzlich willkommen geheißen haben." So wendet sich John Eliot Gardiner auf Deutsch direkt ans Publikum im Großen Saal der Elbphilharmonie. Er wünscht allen ein friedvolles Weihnachtsfest und kündigt noch ein musikalisches Geschenk an: Das Lied "Es ist ein Ros‘ entsprungen" als Zugabe. Die 18 Sängerinnen und Sänger von The Constellation Choir singen das unglaublich zart und anrührend. Das trifft direkt ins Herz. Man sieht, wie vielen Menschen das Wasser in die Augen schießt, nicht nur im Publikum. Auch Gardiner selbst wischt sich anschließend die Wangen. Er nimmt sogar einige Mitglieder des Orchesters in den Arm - eine für ihn eher ungewohnte Geste, am Schluss eines denkwürdigen Konzerts.
Neustart voller Wertschätzung
Der Neustart ist jedenfalls geglückt. Die Atmosphäre bei den Proben sei sehr angenehm gewesen, erzählt die Sopranistin Marie-Luise Werneburg. Sie hat jetzt zum ersten Mal mit John Eliot Gardiner zusammengearbeitet. "Ich habe ihn als einen sehr, sehr freundlichen und sehr aufmerksamen und interessierten Menschen wahrgenommen, der sich wirklich Zeit genommen hatte, mit jedem Musiker und jedem Sänger auch mal kurz zu sprechen", erzählt sie. Diese Atmosphäre von gegenseitiger Wertschätzung hat auch das Debütkonzert geprägt - und die gemeinsame Suche nach Freude, Hoffnung und Trost in der Musik zu einem teilweise tief bewegenden Erlebnis gemacht.