Simon Hurtz über X: "Da kann man von Zensur sprechen"
Ist die Plattform "X" ehemals Twitter unter Elon Musk ein Ort der Zensur, des Rassismus, Antisemitismus und des rechten Agendasettings geworden? Das Journalisten-Team von Social Media Watchblog beobachtet die Entwicklung der Medienlandschaft aus professioneller Perspektive. Ein Interview mit Simon Hurtz, einem der beiden Gründer.
Kurz nach dem Wahlsieg von Donald Trump Mitte November haben Prominente wie die Filmstars Jamie Lee Curtis und Jim Carey und der Bestsellerautor Stephen King die Plattform "X" verlassen; mittlerweile ist die Abschiedswelle längst auch in Europa und Deutschland angekommen. Fußballvereine wie der FC St. Pauli sind ebenso dabei wie etwa mehrere NS-Gedenkstätten. Unter dem Titel "eXit" von Twitter haben 66 Personen einen offenen Abschiedsbrief unterzeichnet und der früher unter dem Namen Twitter bekannten Plattform vorgeworfen, sie sei "ein Ort der Zensur, des Rassismus, Antisemitismus und des rechten Agendasettings geworden."
Herr Hurtz, was sagen Sie zu diesen Vorwürfen, die im Abschiedsbrief geäußert wurden? Ist die Plattform "X" ein Ort des Rassismus, des Antisemitismus und auch der Zensur?
Simon Hurtz: Ich teile alle genannten Vorwürfe, die in diesem offenen Brief drinstehen und kann sehr gut nachvollziehen, warum die Kolleginnen und Kollegen sich entschieden haben, nicht mehr auf dieser Plattform präsent sein zu wollen. Ob man das jetzt in Form eines öffentlichen Briefs und den eigenen Abschied noch zelebrieren muss, ist eine Geschmacksfrage. Aber ich finde es erstmal gut, dass Menschen "X" verlassen, ob jetzt nun öffentlich oder privat und eher still. Denn jeder Abschied der Plattform entzieht ihr ein bisschen Relevanz.
Sie sagen, Sie stimmen zu, da gibt es Zensur. Wie äußert die sich? Wie kann man sich das vorstellen?
Hurtz: Zensur ist ein relativ starkes und umstrittenes Wort. Ich hätte das selbst vielleicht nicht gewählt, weil es oft staatliche Zäsur impliziert. Aber man kann definitiv sagen, dass seitdem Elon Musk die Plattform vor gut zwei Jahren übernommen hat, genau das passiert, was eher dem früherem Twitter oft vorgeworfen wurde, nämlich, dass bestimmte Meinungen weniger sichtbar sind. Das muss sich nicht immer dadurch äußern, dass Tweets oder Posts gelöscht werden, aber er nimmt definitiv nachweislich Einfluss auf die Algorithmen und damit auf die Sichtbarkeit. Studien deuten darauf hin, dass in der Timeline von allen Nutzerinnen und Nutzern Musks eigene Postings maximal prominent angezeigt werden, außerdem auch rechte und rechtsradikale Inhalte. Was in der letzten Zeit definitiv geschehen ist, dass einige ausgewählte Journalistinnen und Journalisten und auch Medien entweder gedrosselt in ihrer Reichweite, das betrifft vor allem große eher liberale Medien, als auch gelöscht oder gesperrt wurden, das betrifft einzelne kritische Journalistinnen und Journalisten. Da finde ich, kann man von Zensur sprechen.
Würden Sie sagen, dieses Medium ist mittlerweile nicht nur ein Machtinstrument, sondern auch ein Propagandainstrument geworden?
Hurtz: Ja, das ist ein Ausdruck, den ich selbst in unserer Berichterstattung beim Social Media Watchblog seit langem schon nutze. Ich finde das hat sich in den vergangenen zwei Jahren immer deutlicher abgezeichnet. Jetzt gab es eine Beschleunigung dieser Tendenz und Radikalisierung von Musk und zwar in den Monaten vor und während des Wahlkampfs. Mittlerweile ist "X" als astreine Propagandaplattform und als sein persönliches politisches Werkzeug anzusehen, um zum einen Einfluss auf die US-Innenpolitik zu nehmen, aber seine Meinung auch einem sehr großen Publikum vorzusetzen.
Wenn jetzt viele prominente Persönlichkeiten und wichtige Medien, wie der britische Guardian, "X" verlassen, die selber viele Follower haben, hinterlässt das bei "X" dann einen störbaren Schaden? Ist es denkbar, dass bei Musk ein Umdenken passiert?
Hurtz: Ich glaube, ein Umdenken wird ganz sicher nicht passieren, dadurch fühlt er sich eher bestätigt. Ich glaube nicht, dass ihm persönlich daran gelegen ist, dass "X" eine Plattform ist, auf der alle Meinungen des politischen Spektrums ausgewogen repräsentiert sind. Was er großspurig bei der Übernahme angekündigt hat, er möchte einen Marktplatz der Ideen schaffen und ihm ist es wichtig politisch neutral zu sein, da stehen seine Worte und seine Taten in einem krassen Missverhältnis. Seit zwei Jahren hat er genau das Gegenteil davon umgesetzt. Meinungsfreiheit nach Musk heißt: Meine Meinung muss sowohl frei geäußert werden dürfen und maximal vielen Menschen vorgesetzt werden. Das ist Meinungsfreiheit, alle anderen Meinungen sollen nach Möglichkeit gar nicht sichtbar sein. Das zieht er durch, insofern glaube ich nicht, dass ihn Abschiede von Personen und Medien aus dem linken und links liberalen Spektrum stören. Aber natürlich nimmt das der Plattform ein bisschen an Relevanz und Legitimität. Allerdings muss man aufpassen, dass die - ich sage das mal aus meiner Perspektive - Hoffnung eines Abrutschens in die Irrelevanz nicht mit der Realität verwechselt wird, weil noch ist "X" immer noch das größte und wichtigste textbasierte Netzwerk.
Gibt es jetzt einen Boom beim Rivalen Bluesky?
Hurtz: Ja, den gibt es definitiv. Bluesky wächst glücklicherweise sehr schnell, gerade nach der US-Wahl. Es gab vor einigen Monaten schon mal ein Wochenende oder eine Woche, wo es - gerade in Deutschland - extrem schnell gewachsen ist. Dann stagnierte es wieder ein bisschen und jetzt nach der US-Wahl und Trumps Sieg ist die Plattform auch international, vor allem in den USA, noch mal gewachsen. Ich hoffe persönlich sehr, dass das eine nachhaltige Entwicklung ist, dass sich Bluesky als Alternative zu "X" etabliert, wo ein zivilisierterer Diskurs möglich ist. Ich bezweifele persönlich, dass es jemals die Größe, sowohl politische als auch kulturelle Relevanz des früheren Twitters erreichen wird, aber vielleicht muss es das auch gar nicht. Das Internet hat sich seit den goldenen Zeiten von Twitter auch weitergedreht. Videos sind für viele Menschen wichtiger geworden als Text. Dementsprechend habe ich meine Zweifel, ob es überhaupt noch den Raum für so eine Plattform, wie das frühere Twitter gibt. Aber selbst wenn Bluesky ungefähr den jetzigen Status hält, dann wäre das schon ein großer Fortschritt und meiner Meinung nach eine echte Alternative zu "X".
Was denken Sie persönlich? Ist es sinnvoll, die Plattform "X" zu verlassen, oder soll man sie nicht den Schreihälsen überlassen, wie der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagt?
Hurtz: Wir sind schon sehr lange nicht mehr als Social Watchblog auf "X" und auch privat nicht mehr. Wir haben das nie groß angekündigt, sondern einfach für uns gesagt, wir wollen auf einer Plattform, auf der Elon Musk die Regeln schreibt, nicht präsent sein und sie nicht mit kostenlosen Inhalten füttern. Was Habeck angeht, kann ich das nicht nachvollziehen. Ich halte das für genau das falsche Signal, in seinem Fall jetzt, nach mehr als fünf Jahren, wieder auf "X" anzufangen. Ich finde, das demokratische Parteien und Politikerinnen und Politiker nicht auf der Plattform eines absolut erklärten Antidemokraten präsent sein sollten.
Das Gespräch führte Eva Schramm.