Kirill Serebrennikovs überwältigende "Legende" im Thalia Theater
Seit 2022 lebt der in seiner Heimat verfolgte russische Regisseur Kirill Serebrennikov im deutschen Exil. Derzeit ist er Artist in Residence am Hamburger Thalia Theater. Dort feierte am Sonnabend "Legende" Premiere.
Vier Stunden Theater, Oper, Tanz - und überwältigende Bilder: Kirill Serebrennikov flutete den Saal geradezu. Wer sich dem nicht stellen wollte, ging in der Pause - viele waren es nicht. Die anderen applaudierten zum großen Teil stehend, nicht nur dem Künstler und seinem Ensemble, sondern auch der am Ende projizierten Botschaft: "Lasst alle politischen Gefangenen frei".
"Legende" am Thalia Theater erzählt von Sergei Paradjanow
Das Stück erzählt zehn Legenden "nach Motiven aus der Welt von Sergei Paradjanow", einem heute weitgehend unbekannten, armenischen Filmregisseur, der in den 1960er-Jahren mit seiner surrealen Bildsprache weltweit für Aufsehen sorgte. In der Sowjetunion wurde er jedoch, wie später Serebrennikov, verfolgt. Viele Künstler, darunter Federico Fellini, setzten sich damals für ihn ein.
"Anklage: Homosexualität, Perversion, Gewalt, Herstellung und Verbreitung von Pornographie, Angriff auf die Staatsordnung - unterschreib' das Schuldgeständnis. Da ist die Tinte." Bühnenzitat
Nicht alle Situationen sind nachvollziehbar. Der Abend beginnt mit der "Legende von den Toten", deren Geister aus den Gräbern steigen, weil die Friedhöfe in Tiflis in Freizeitparks umgewandelt werden sollen. In Tiflis ist Sergei Paradjanow geboren und aufgewachsen:
"Sergei Iossifowitsch, du bist wieder viel zu leicht angezogen, du wirst dich wieder erkälten, aber ich werde dich nicht wieder gesund pflegen. Ich hab's nämlich langsam bis hier!" Bühnenzitat
... sagt die Mutter Paradjanows. In einer anderen Legende begegnen wir unter anderem den Malern Velázquez, Delacroix, und Dürer, in weiteren dem Dichter Walt Whitman oder König Lear, der mit seinem Narren verloren durch die Welt irrt.
Kein roter Faden, aber viel Opulenz
Die Kunst, der Tod, das Leben und die Freiheit: Das sind die großen Themen, die Serebrennikov mal verschlüsselt, mal überdeutlich in den Raum stellt:
"Du musst mich unterhalten, tanzen, Freude machen, dem Volk erzählen, wie gut alles läuft."
"Darf ich etwa nicht sagen, dass du ein Scheiß-Diktator bist?"
Bühnenzitat
Lose reiht sich Geschichte an Geschichte. Ohne Vorwissen sind viele Anspielungen nicht zu verstehen, auch die Bezüge zu Paradjanow kaum herzustellen. Einen roten Faden gibt es nicht und insbesondere vor der Pause droht sich Serebrennikov in Opulenz zu verlieren. Später gewinnt es an Stringenz und Konzentration. Vor allem Karin Neuhäuser und Felix Knopp erden das Pathos, aber das Ensemble stemmt diesen Abend insgesamt spielend und singend mit Bravour.
Die von Serebrennikov entworfene Bühne ist toll. Immer wieder öffnen sich in Windeseile neue Welten: Aus einer Schräge werden zwei Stege, ein Graben, auf weißem Untergrund leuchten die farbenprächtigen Kostüme. "Legende" ist Oper im Theater, die Musik als Dauerverstärker fast immer mit dabei. Vermutlich erzählt dieser Abend mindestens ebenso viel über seinen Schöpfer wie über Paradjanow.
Kirill Serebrennikovs überwältigende "Legende" im Thalia Theater
Das Stück des in seiner Heimat verfolgten russische Regisseurs, der im deutschen Exil lebt, flutete den Saal geradezu.
- Art:
- Bühne
- Datum:
- Ende:
- Ort:
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Thalia Theater
Alstertor
20095 Hamburg - Preis:
- ab 12 Euro
- Hinweis:
- Mit: Filipp Avdeev, Odin Biron, Campbell Caspary, Pascal Houdus, Felix Knopp, Svetlana Mamresheva, Karin Neuhäuser, Daniil Orlov, Falk Rockstroh, Gurgen Tsaturyan, Tilo Werner, Nikita Kukushkin
Regie, Bühne, Kostüme: Kirill Serebrennikov
Dramaturgie: Joachim Lux, Anna Shalashova
Komposition und musikalische Leitung: Daniil Orlov
Video: Ilya Shagalov
Choreografie: Ivan Estegneev, Evgeny Kulagin
Lichtdesign: Sergej Kuchar
Sounddesign: Sven Baumelt
Soundscapes: Rustem Imamiev
Künstlerische Produktionsleitung: Alina Aleshenko
Mitarbeit Bühne: Elena Bulochnikova, Elizaweta Veprinskaja
Mitarbeit Kostüme: Clara Rosina Straßer