"Hau' raus!": "Ungehaltene Frauen" halten Reden in Kassel
Mit ihrem Buch "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen" hat die Autorin Christine Brückner 1983 für Aufsehen gesorgt. Davon inspiriert haben am Dienstag in Kassel sechs Frauen ihre ungehaltenen Reden gehalten. Darunter waren auch zwei Norddeutsche.
Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte und der Geburtstag der Schriftstellerin Christine Brückner. Die Autorin wurde besonders bekannt mit ihrem Buch "Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen". Darin enthalten sind Monologe unter anderem von Christiane von Goethe, Effi Briest und Gudrun Ensslin, die auch auf vielen Theaterbühnen äußerst erfolgreich waren.
"Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen" im Kasseler Rathaus
Vor einiger Zeit entstand die Idee, Frauen aufzurufen, sich mit ihren ungehaltenen Rede zu bewerben. 141 Frauen aus ganz Deutschland haben sich in diesem Jahr beteiligt. Sechs sind eingeladen worden nach Kassel, um dort ihre Rede im Rathaus zu halten.
Der Titel der Veranstaltung, "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen", hat Anika Westermann sofort berührt. Dabei wirkt sie äußerlich überhaupt nicht ungehalten. Selbst beim Reden lächelt sie permanent. "Es hält halt dazu an, die Stimme zu erheben und nicht so angenehm zu sein", erklärt Westermann. "Frauen sind ja gerne mal so 'people pleasing'. Und dieser Titel sagt dagegen: Nö! Hau' raus!"
Krebskranke: Nur in Heldengeschichten sichtbar?
Was sie da raushauen wollte, das wusste sie sofort. Die 40-Jährige bekam vor drei Jahren eine Krebsdiagnose und fühlte sich damals sofort ausgeschlossen von der Gesellschaft. Von einem Tag auf den anderen unsichtbar. Sie kritisiert, dass Krebskranke nur in bestimmten Kontexten stattfinden würden: "Entweder in einer Heldengeschichte, wenn man den Krebs besiegt hat. Oder in Spendenaufrufen, mit Herzschmerz." Der Krebs sei einfach eine Krankheit. "Irgendwer wird immer getroffen von irgendeiner Krankheit. Es fehlt eine Normalität, damit umzugehen. Und meine Rede stellt die Frage: Wollen wir das so?"
Das Publikum nicht schonen, es irritieren - das hat sich Anika Westermann vorgenommen. Aber eben nicht, weil irgendeine Wut raus muss, sondern weil sie etwas ändern will. Sie weiß, sie ist privilegiert. Die Verwaltungsangestellte hat durchgefochten, dass sie eine andere Chemotherapie bekommt, die sie besser verträgt, die auch besser gegen den Krebs hilft, aber 200 Euro teurer ist. Ihre Freunde nennen Westermann "Robin Theresa", weil sie eben nicht nur für ihre eigenen Interessen kämpft. Und das tut sie auch mit dieser Rede.
Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen, von abrasierten Haaren und vollgekotzten Koffern. Sie könnten sich eine Geschichte erzählen von inspirierender Heilung und vom Überleben einer starken Heldin mit Silikonbrüsten. Aber es geht nicht um mein Überleben. Ich bin keine Heldin. Es geht um Ihr Unbehagen. aus Anika Westermanns Rede
Rostockerin will Applaus für den Text - nicht für den Rollstuhl
Eine persönliche Erfahrung beschreiben, aber eine mit gesellschaftlicher Relevanz - das ist das Ziel des Wettbewerbs, bei dem sich auch Alina Mathias beworben hat. Und wer die Rostockerin sieht, glaubt sofort zu wissen, worüber sie sprechen wird. Mathias betont, dass es ihr um ihre Kunst gehe. "Ich möchte am Ende den Applaus für den Text kriegen, und nicht, weil ich mich mit einem Rollstuhl, für den ich absolut nichts kann, für den ich keinerlei Beitrag geleistet habe, auf eine Bühne gestellt habe. Entweder der Text funktioniert oder er funktioniert halt nicht, aber ich will keine Extrapunkte, weil da vier Räder unter meinem Hintern sitzen."
In ihrer Rede geht es um den Rechtsruck in unserer Gesellschaft. Die 23-Jährige hat den Text im vergangenen Jahr geschrieben und ihn auch schon mal bei einem Poetry Slam vorgetragen. Da hat er für das Publikum nicht funktioniert. "Meine Eltern sagen ganz oft: Ja, mach es doch mal ein bisschen humorvoll und nicht so bierernst", berichtet die Rostockerin. Bei dem Thema könne sie jedoch nicht auf ihrer Haut. "Das würde sich nicht ehrlich anfühlen. Ich glaube, wenn man sich mit einem unauthentischen Text auf die Bühne stellt, funktioniert es auch nicht."
"Männern wird aufmerksamer zugehört"
Dass der Wettbewerb etwas Ausschließendes hat, weil er sich an Frauen richtet, ist für Alina Mathias genau richtig. "Männer haben diesen Raum schon viel länger, ihnen wird aufmerksamer zugehört. Es ist natürlich wünschenswert, dass es eine Parität gibt. Aber solange es die nicht gibt, braucht es diese Räume exakt und konkret für uns."
Für die Hamburgerin Anika Westermann ist es auch wichtig, wie sie auf die Bühne des Rathauses in Kassel steigt: "Ich werde da ungeschminkt auf die Bühne gehen, das ist Teil meiner Rede", so Westermann. "Für mich ist es total schön, dass ich vielleicht ein Vorbild für andere sein kann - dass ich als Frau auch ungeschminkt gehört werde und eine Bühne kriege."