"Rundfunkstücke": Drei Bände beleuchten Siegfried Lenz' Radiokarriere
Es ist gar nicht so bekannt, dass Siegfried Lenz vor allem in seinen frühen Jahren regelmäßiger Autor fürs Radio gewesen ist. Das zeigen drei gewichtige Bände mit insgesamt 2.700 Seiten, die so manche Überraschung bieten.
"Jedenfalls: Ich höre Musik aus verschiedenen Gründen. Der erste Grund: Freude, die sich ein Ziel sucht, die ihr Ziel kennt. Und als Beispiel dafür hier gleich meine erste Platte, meine Lieblingsplatte: 'Up Up and Away' mit den Ray Conniff Singers. Los geht's."
Ja, auch das war Siegfried Lenz: "Der Autor als DJ". So hieß in den 1960er-Jahren eine Sendung beim NDR, in der Schriftsteller ihre Lieblingsplatten auflegten. Siegfried Lenz philosophiert da ein bisschen umständlich mit jedem neuen Song über allerlei gute Gründe, überhaupt mal Musik zu hören - und man ahnt: Seine Lieblingsrolle war der Discjockey vielleicht nicht, aber sein Lieblingsmedium war, neben den Büchern, ganz gewiss das Radio.
2.000 Seiten Text, 700 Seiten Kommentar
Siegfried Lenz, der große Romancier und Geschichtenerzähler, war auch ein überaus fleißiger Rundfunkautor. Das kann man jetzt nachlesen - in drei umfangreichen Bänden mit 150 Essays, Rezensionen, Features, Reiseberichten und Hörspielen. Das meiste davon schrieb er in den 50er-Jahren. "Siegfried Lenz hat buchstäblich vom Rundfunk gelebt", sagt Hans-Ulrich Wagner, der Herausgeber. "95 Prozent seiner Einnahmen waren in den 50er-Jahren Honorare der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten."
Fünf Jahre lang hat Wagner, Medienhistoriker und Senior Researcher am Hamburger Leibniz-Institut für Medienforschung, im Nachlass von Siegfried Lenz und in vielen Archiven der ARD die immer noch wenig bekannte Rundfunkkarriere eines der populärsten deutschen Schriftsteller rekonstruiert. Dass dabei 2.000 Seiten Text und 700 Seiten Kommentar zusammenkommen würden, haben alle Lenz-Kenner nicht für möglich gehalten, weder im Umfang noch in der Qualität.
"Siegfried Lenz war ein richtig zeitkritischer Autor"
In den Radiostücken entfaltet sich auch Lenz' literarischer Kosmos. Viele Motive seiner späteren Romane - den Hafen, die Schifffahrt, auch das Angeln - probiert er schon mal in kürzeren Rundfunkmanuskripten aus. Oft legt er seine Texte mehreren Sprecherinnen und Sprechern in den Mund, damit es im Radio plastisch und nicht langweilig wird. Die Dialoge in seinen Hörspielen lesen sich wie Vorläufer für die Gesprächsszenen in den großen Geschichten und Romanen.
Und bei all dem war Lenz nicht nur der gemütliche Geschichtenerzähler. Er war vielleicht nicht so laut wie Günter Grass und andere, er war abwägender - aber er war nicht weniger politisch. "Was sehr überraschend ist, dass Siegfried Lenz ein richtig zeitkritischer Autor war", findet Wagner. "Zum Beispiel zeigen 'Die neuen Stützen der Gesellschaft' einen hochgradig an dieser Gesellschaft interessierten jungen Schriftsteller, der regelrecht soziologisch arbeitet und diese Art von Triebfedern der Gesellschaft beobachtet, seziert und durchaus auch satirisch zuspitzen kann."
Das Radio war ein Glücksfall für Siegfried Lenz
Die meisten Arbeiten entstanden für den NDR. Als freier Mitarbeiter bot er Beiträge an. Nicht alles wurde genommen - es gibt auch eine Reihe ungesendeter Manuskripte. Später, als er bekannter war, ging es leichter. Die Redakteure schrieben ihm: Herr Lenz, über was würden Sie gern mal etwas machen? Lenz lieferte, und die Produktion schnurrte. Bis ins hohe Alter blieb ihm immer klar, wie wichtig die Radioarbeit für seine Schriftstellerlaufbahn war: "Der Rundfunk übernahm etwas für den jüngeren Schriftsteller, was man sich nur wünschen konnte: nämlich eine durch und durch mäzenatische Funktion. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die westdeutsche Nachkriegsliteratur nicht hätte entstehen können ohne die Möglichkeiten, die der Rundfunk dem jüngeren Schriftsteller gegeben hat", so Lenz.
Die "Rundfunkstücke", die Hans-Ulrich Wagner akribisch geordnet und kommentiert hat, zeigen nochmal ganz neue Aspekte in Siegfried Lenz' Werk. Wach, zeitkritisch, aber auch unterhaltsam und manchmal humorvoller als in seinen Büchern. Das Radio war ein Glücksfall für Siegfried Lenz - und Siegfried Lenz ein Glücksfall fürs Radio.
Rundfunkstücke
- Seitenzahl:
- 2736 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hoffmann & Campe
- Bestellnummer:
- 978-3-455-40613-9
- Preis:
- 180 €